Krieg, Verlust und Erinnerung – Der Volkstrauertag in Langenholdinghausen

(wS/red) Siegen 26.11.2024 | Langenholdinghausen: Sich schlimme Zeiten vor Augen führen, sich damit befassen, was die eigenen Vorfahren im Krieg an Leid erleben mussten, auch das kann die Menschen vor Ort zusammenführen: „Als der Krieg das Leben bestimmte – Geschehnisse und Schicksale in Langenholdinghausen ab 1939“ – zu diesem Thema hatten der Arbeitskreis Dorferneuerung und Dorfgeschichte und der Verein Dorfgemeinschaftshaus Hollekusse e. V. anlässlich des Volkstrauertages 2024 gemeinsam eingeladen. Im vollbesetzten Saal des Gemeinschaftshauses begrüßte Max Pfennig, Vorsitzender des Vereins Dorfgemeinschaftshaus, die Gäste. Über die sehr gute Resonanz auf die Einladung freute er sich, beweist sie doch, dass auch fast acht Jahrzehnte nach Kriegsende die damaligen Ereignisse den Menschen nicht gleichgültig sind.

In seinen Ausführungen berichtete der Ortschronist Ernst-Otto Ohrndorf vom Geschehen im Ort nach Ausbruch des Krieges, von der Einziehung der Dienstpflichtigen zur Wehrmacht, über die dadurch bedingte hohe
Arbeitsbelastung der Familien beim Betrieb der Landwirtschaft bis hin zu den Auswirkungen der Zwangsbewirtschaftung auf die Lebensmittelerzeugung und die Versorgung der Bevölkerung. Gleich nach dem deutschen Überfall auf Polen waren 41 jüngere und auch schon ältere Männer zur Wehrmacht eingezogen worden. Ende des Jahres 1942 standen dann – so der damalige Schulchronist – 56 Männer „unter den Waffen“, das war jeder sechste Einwohner einschließlich der Frauen und Kinder.

Nachdem in den ersten beiden Kriegsjahren kein aus dem Dorf Einberufener zu Tode gekommen war, forderte das Jahr 1941 unter den Soldaten aus Langenholdinghausen die ersten Opfer. Diesen sollten noch viele weitere folgen.

Am 4. Febr. 1944 verloren dann zwei Familienväter ihr Leben bei Bombenangriffen auf die Geisweider Eisenwerke.
Beim selben Angriff erlitt ein junger Mann aus dem Dorf an seinem Arbeitsplatz in Weidenau durch Phosphorbomben schwerste Verbrennungen, an denen er einen Monat später verstarb – im Alter von nur 16 Jahren.

Im Winter 1944/45 waren in fast jedem Haus des Dorfes „Ausgebombte“ aus Siegen und auch aus den Ruhrgebietsstädten untergebracht. Jetzt wurden immer jüngere Leute zur Wehrmacht eingezogen und ihr Leben im Kampfgeschehen sinnlos geopfert. Ab dem März 1945 zeigte sich Luftüberlegenheit der Alliierten in der ständigen Bedrohung der Menschen bei der Feldarbeit durch feindliche Tiefflieger, „Jabos“ genannt. Gleichzeitig erfolgte die Verpflichtung der alten Männer im Ort zum „Volkssturm“, dem letzten Aufgebot des Regimes.

Noch Ende März kam es in Langenholdinghausen zu einem Vorgang, der bei vielen Menschen im Ort Empörung hervorrief, der die Unmenschlichkeit der damaligen Akteure offenbart und der auch die Zuhörer des Vortrages erschütterte: Nur zwölf Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner im Ort verurteilte ein Standgericht einen vermeintlichen Deserteur zum Tode. Seine Hinrichtung durch Erschießen erfolgte am Morgen des 28. März 1945 im Fichtenwald am Fuße des „Eibel“.

Anfang April 1945 setzte der Beschuss des Dorfes durch die amerikanische Artillerie ein. Der Kontakt der Menschen untereinander war jetzt sehr eingeschränkt, jede Familie bereitete sich auf das Kommende vor, wie sie es für richtig hielt. Beim Beschuss des Dorfes wurde eine Reihe von Häusern durch Granaten beschädigt, gleichwohl blieb der Ort von größeren Zerstörungen verschont, vor allem aber waren keine Todesopfer zu beklagen.

Die bis dahin in den Häusern liegenden deutschen Einheiten hatten sich schließlich zurückgezogen. In der Nacht zum 9. April 1945 endete dann mit dem Durchzug der Amerikaner für Langenholdinghausen der Krieg. Berichte von Zeitzeugen, die das dramatische Geschehen selbst miterlebt hatten, wurden in den Vortrag eingeflochten. Sie machten die Ausführungen des Chronisten noch authentischer und lebendiger. Dieser hatte schon vor vielen Jahren ältere Mitbürger zu ihren Erlebnissen am Ende des Krieges befragt und deren Berichte festgehalten. Mitglieder des Arbeitskreises gaben diesen Zeitzeugen jetzt wieder eine Stimme.

Eine 1957 am Denkmal am „Eibel“ angebrachte Gedenktafel nennt die Namen von 35 Opfern, die in Langenholdinghausen durch den Krieg zu beklagen waren. Neben den Ortsansässigen, die ihr Leben an der Front oder im Bombenhagel lassen mussten, enthält die Tafel auch die Namen von vier Gefallenen bzw. Vermissten, die zwar nicht in Langenholdinghausen wohnten oder geboren wurden, deren Angehörige aber nach dem Krieg als Vertriebene in das Dorf kamen.

Diese 35 Opfer der Gewalt hatten im Vorfeld der Veranstaltung im Mittelpunkt intensiver Nachforschungen gestanden. Gut 40 Familien im Ort waren aufgesucht worden, Fotoalben, Feldpostbriefe und andere Dokumente hatten sie dem Ortschronisten zur Verfügung gestellt. Dafür wurde den Familien während des Vortrages noch einmal gedankt. Ein besonderer Dank galt dem heute 98 Jahre alten Heinz Brach aus dem Haus „Kluse“: In Langenholdinghausen aufgewachsen ist er der Einzige, der die durch den Krieg Umgekommenen noch persönlich kannte. Heinz Brach („Kluse Heinz“) hatte bereitwillig mitgeholfen, Personen auf alten Fotos zu identifizieren, dem Chronisten aus seinen Erinnerungen berichtet und ihm immer wieder Fragen zum damaligen Geschehen beantwortet. Zu jedem der 35 Kriegsopfer konnte mancherlei festgehalten werden, zu ihrem Lebenslauf, ihrem Weg während des Krieges und – soweit möglich – zu den Umständen ihres Todes. Bilder aus der Schulzeit, aus dem Familienleben, der Arbeitswelt und aus ihrer Zeit als Soldaten geben den zumeist jungen Menschen „ein Gesicht“.

Einen wesentlichen Teil des Vortrages widmete der Referent dem Leid der Angehörigen der Kriegsopfer, dem Leid ihrer Eltern, Geschwister, der Ehefrauen und der Kinder, von denen einige aufwuchsen ohne ihren Vater je gesehen zu haben. In fast jedem zweiten der damals 76 Häuser des Dorfes waren infolge des Krieges Todesopfer zu beklagen gewesen, in drei Häusern sogar jeweils zwei. Das Leid des Verlustes wurde noch dadurch verstärkt, dass die Angehörigen das Grab der Gefallenen nie besuchen konnten, dass sie in vielen Fällen noch nicht einmal wussten, was mit ihnen geschehen war. Die Orte, an denen die Angehörigen auf schreckliche Weise starben, sind heute über sieben Staaten verteilt. Neun der Kriegsopfer aus Langenholdinghausen gelten bis heute als vermisst.

Die Ungewissheit, das Warten auf weitere Nachrichten, auch die nach Jahren noch gehegte Hoffnung, dass der Ehemann, Sohn oder Bruder doch noch irgendwann heimkehrt, hat viele Angehörige verzweifeln lassen.

Neun der 30 Gefallenen aus Langenholdinghausen ruhen heute auf den vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge angelegten zentralen Kriegsgräberstätten, drei davon auf der Kriegsgräberstätte Charkiv in der nordöstlichen Ukraine – dort, wo heute wieder Krieg herrscht. Allein auf diesen Friedhof wurden bis März 2022 47.993 deutsche Soldaten umgebettet. Die Namen und Daten weiterer elf Soldaten aus Langenholdinghausen liegen dem Volksbund zwar vor, sie konnten bisher aber nicht geborgen werden. Man vermutet ihre Gräber noch dort, wo sie gefallen sind. Von wiederum anderen Kriegsopfern liegen keine Daten vor.

Der mit zahlreichen Fotos hinterlegte Vortrag vermittelte ein aussagekräftiges Bild von den Auswirkungen des Krieges auf das Dorf und seine Bewohner. Anders als durch anonyme Zahlen wurden bei der Betrachtung dieses lokal begrenzten Raumes die Auswirkungen des weltweit geführten Krieges auf den Einzelnen deutlich. Von der ersten bis zur letzten Minute der immerhin anderthalbstündigen Ausführungen war dem Chronisten und seinen Mitvortragenden die ungeteilte Aufmerksamkeit sicher, die Zuhörerschaft – ob alt oder noch jünger – war vom Gehörten und Gesehenen deutlich ergriffen.

Am Ende der Veranstaltung stand das Gedenken an die Opfer der Kriege und der Gewalt, verbunden mit der eindringlichen Mahnung zum Frieden – vorgetragen von Erhard Siebel, dem Vertreter des Volksbundes im Ort.

„Das war eine dem Volkstrauertag würdige Veranstaltung“- lautete das Urteil eines Teilnehmers über diesen Nachmittag. Und wäre darüber abgestimmt worden, die anderen Gäste hätten dem einhellig beigepflichtet. Mit der Möglichkeit die Dokumentationen zum Schicksal der Kriegsopfer in Ruhe in Augenschein zu nehmen und mit Gesprächen der Teilnehmer bei Kaffee und Kuchen klang die Veranstaltung aus.

Der Vortrag des Ortschronisten über das örtliche Geschehen während des Krieges wurde durch die Berichte von Zeitzeugen – vorgetragen von Mitgliedern des Arbeitskreises – noch authentischer

Das Publikum widmete den Ausführungen seine volle Aufmerksamkeit – das Geschehen während der Kriegsjahre ließ niemand unberührt

Gleich zu Beginn des Krieges waren 41 Männer aus Langenholdinghausen zur Wehrmacht einberufen worden, darunter auch Rudolf Hinkel (re.) und Karl Hain (3. v. r.), hier mit dem Nötigsten im Koffer in der Nähe des Siegener Bahnhofs

Das Grab von Karl Hain auf dem von der Wehrmacht angelegten Soldatenfriedhof bei Naswa in Russland

„Sie alle wollten leben …“ – eine vielbeachtete Dokumentation widmet sich dem Schicksal der Kriegsopfer aus Langenholdinghausen, Bilder geben den Gefallenen und Vermissten „ein Gesicht“

Zur Zeit des II. Weltkrieges standen in Langenholdinghausen 76 Häuser – in fast jedem zweiten Haus war ein Opfer des Krieges zu beklagen

 
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