„Das System ist brüchig geworden“

wS/ee    Siegen   – 15.08.2012  –  Der Siegener Soziologe Prof. Dr. Stefan Kutzner forscht zum Thema Heiratsmigration. Diese ist die anteilig größte Form der Einwanderung. Und doch haben sich die Verhältnisse in den zurückliegenden Jahrzehnten verändert. Wegbrechende Fabrikarbeitsplätze und fehlende Weiterqualifikation machen es vor allem türkischen Migranten schwerer, sich in ein Mittelstandsmilieu zu integrieren.

In jedem Jahr kommen Tausende Menschen aus dem Ausland nach Deutschland. Beim überwiegenden Teil der Einwanderer, so Jan F.C. Gellermann, Doktorand am Seminar für Soziologie der Universität Siegen, handelt es sich um so genannte Familienmigranten. Dazu gehört auch die Heiratsmigration. Und diese ist ein Forschungsschwerpunkt von Jan Gellermann sowie seines Doktorvaters Prof. Dr. Stefan Kutzner, der am Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) tätig ist. Kutzners Forschungsschwerpunkte liegen bei der Sozialpolitik, der politischen Soziologie, der Armutsforschung und eben der Familiensoziologie. Der Wissenschaftler: „Das Thema Heiratsmigration ergab sich aus der Praxis.“ Vor etwa drei Jahren wurde er sowohl vom Diakonischen Werk im Kirchenkreis Siegen als auch vom Türkisch-Deutschen Elternverein angesprochen. Die Frage lautete, ob er an der wissenschaftlichen Begleitung einer Bildungsmaßnahme für Migrantinnen interessiert sei. Kutzner war. Ziel der Bildungsmaßnahme war es, Migrantinnen mit den Lebens- und Arbeitsverhältnissen in Deutschland vertraut zu machen. Ein Jahr lang gingen sie in den Unterricht, schauten im Rahmen von Praktika in den Altenpflegebereich und in Kindergärten. Studierende des Master-Studiengangs Bildung und Soziale Arbeit interviewten alsdann in einem mehrsemestrigen Forschungspraxisseminar 14 Teilnehmerinnen überwiegend türkischer Herkunft und in einem zweiten Projekt weitere elf Frauen, von denen auch einige aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen. Zudem gab es Fragebögen zu den Herkunfts- wie auch den Gattenfamilien. Der Soziologe: „So ist interessantes Material gesammelt worden, das nun in einem zweiten Forschungspraxisseminar weiter ausgewertet wird. Jeweils ein Interviewer konnte durch Fragen zu mehreren Generationen ein ganzes  Familienspektrum abdecken.“ Auch Jan Gellermanns Dissertation steht in diesem Themenkomplex.

Kutzner zum Hintergrund der Forschungsarbeit: „Die familiensoziologische Perspektive war für uns besonders interessant. Normalerweise wird überwiegend auf Einzelpersonen geschaut. Jedes Individuum ist aber in Familien eingebettet.“ Gellermann: „Zumal der Familienzuzug die stärkste Einwanderungsform seit dem Anwerbungsstopp im Jahr 1973 ist.“ Die Interviewten des ersten Projektes stammten mehrheitlich aus traditionellen agrarischen Milieus der Mittel- und Osttürkei oder aus Familien, die bereits innerhalb der Türkei aus solchen landwirtschaftlich geprägten Lebenswelten in die Ballungszentren der Mittel- und Westtürkei binnenmigriert waren. Letztere lebten dort in kleinbürgerlichen Arbeitermilieus. 13 der 14 Befragten gingen in jungen Jahren arrangierte Ehen ein. Nur eine Muslimin wählte den Ehemann gegen den Elternwunsch selbst aus. Alle Frauen benötigten deutsche Sprachkenntnisse, um an der Bildungsmaßnahme teilzunehmen.

 

Die Wissenschaftler stellten fest, dass die Sozialisationsverläufe der befragten türkischen Frauen sich deutlich von denen deutscher Jugendlicher unterscheiden. In der Regel sind die Eltern auch bei ihren Töchtern der damals fünfjährigen Schulpflicht nachgekommen. Darüber hinausgehende Bildung und Ausbildung ist eher selten. Fast alle Befragten stammen aus Großfamilien.  Kutzner: „Die Familie ist für sehr lange Zeit die wirkmächtigste Instanz.“ Sogenannte „Flegeljahre“ mit Abstand von daheim gibt es nicht. Geheiratet wird früh. Frauen gehen von der Herkunftsfamilie in die Gattenfamilie über. Der Soziologe: „Fast alle Frauen sind auf die Kinder und weniger auf die Ehemänner konzentriert. Hauptbezugspersonen sind die Kinder, Schwägerinnen, Schwiegereltern und per Telefonkontakt die Mitglieder der Herkunftsfamilie in der Türkei: „Das ist ein sehr familienbezogenes Dasein.“ Deshalb empfanden die Interviewten den Kontakt zu anderen Migrantinnen sowie zum Lehrpersonal im Rahmen der Bildungsmaßnahme als Bereicherung. Kutzner: „Man kann sehen, wie die Männer zu den Bildungsmaßnahmen stehen – viele positiv, trotz anfänglicher Skepsis.“ Eckpfeiler des Widerstandes waren zumeist die Schwiegermütter: „Da stellte sich die Frage, womit der Mann es hält – mit der Frau oder seiner Mutter.“ Keine einfache Situation, führt sie doch zu Generationenkonflikten. Kutzner: „Man kann nachvollziehen, wie sich während zweier Generationen Integration vollzieht und welche Schwierigkeiten damit einhergehen.“ Integration ist im Familienverbund durchaus konfliktträchtig.

Die Siegener Forscher wollen mehr über die Zusammenhänge wissen und ein Forschungsprojekt  zum Thema „Lebensbedingungen und Habitusformationen türkischer Heiratsmigrantinnen“ beantragen. Dabei steht auch der Ablauf von innerfamiliären Prozessen zwischen Generationen im Mittelpunkt. Zudem interessiert, welche Auswirkungen bestimmte Bildungsmaßnahmen haben und wie man diese auf Grundlage der  gewonnen Erkenntnisse verbessern kann. Überdies möchten die Wissenschaftler das Thema „Heiratsmigration“ langfristig als Forschungsschwerpunkt an der Universität Siegen etablieren.

Die Frauen stammen zu einem erheblichen Teil aus Gegenden, in denen „Sozialversicherung“ Familiensache ist. Durch arrangierte Ehen werden auch Familienallianzen gestärkt, die füreinander einstehen. Die Schwiegertöchter sind vielfach für die Kindererziehung und die Versorgung der Schwiegereltern zuständig. Die eigenen Töchter werden verheiratet. Gellermann: „Das System ist aber brüchig geworden.“ Nicht selten gehen Frauen nicht mehr gänzlich von der Herkunftsfamilie in die Gattenfamilie über, enge Kontakte zu Eltern und Geschwistern bleiben. Auch, weil sich die Familien- und Lebensverhältnisse bei den in Deutschland lebenden Einwanderern ändern. Fabrikarbeit ist selten geworden: „Der Wandel hin zur Wissensgesellschaft ist für türkische Migranten nicht selten mit prekären Einkommensverhältnissen verbunden.“ Auch für Türkischstämmige gilt, dass ein Einkommen häufig nicht ausreicht, um die Familie angemessen zu versorgen. Kutzner: „Vor 20, 30 Jahren waren die Erwerbschancen besser.“ Über die Fabrikarbeit waren Migranten an die moderne Arbeitswelt angebunden, die Nachkommen hatten eher höhere Bildungschancen außerhalb der Familie. Der Wissenschaftler: „Die Integration im Mittelstandsmilieu ist für Migranten schwerer geworden.“ Dazu beigetragen habe die fehlende Tradition der Weiterbildung.  Womit sich der Kreis um die Frage nach geeigneten schulischen und sozialpädagogischen Maßnahmen für Migrantinnen und Migranten schließt.

Das Thema Heiratsmigration ist hochaktuell. Universität Siegen, ZPE und Diakonie laden daher für den 28. September zur gleichnamigen Fachtagung ins Audimax der Universität Siegen ein. Themen sind beispielsweise „Migrationsgeschehen im Wandel“, „Heiratsmigration nach Deutschland: Aktuelle Befunde – Schwerpunkt Türkei“ oder „Familiennachzug: Barriere oder Erleichterung für die Integration?“. Mehr Infos gibt es unter  www.heiratsmigration.de .

 

Der Soziologe Prof. Dr. Stefan Kutzner (l.) und Doktorand Jan Gellermann forschen am Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste der Universität Siegen zum Thema Heiratsmigration.

 

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