(wS/dia) Siegen 19.05.2025 | Harnblasenkrebs gilt als besonders aggressiv – und im fortgeschrittenen Stadium führt zumeist kein Weg vorbei an einer vollständigen Entfernung des Organs. Dank moderner OP-Techniken gibt es heute jedoch Therapien, die Patienten ein hohes Maß an Lebensqualität zurückgeben können. Ein Beispiel ist die Neoblase, die aus Darmgewebe geformt wird und es ermöglicht, den Urin auch künftig auf natürlichem Weg über die Harnröhre auszuscheiden. Wie das funktioniert, das erläuterte Dr. Mahmoud Farzat, Chefarzt der Robotischen Urologie im Diakonie Klinikum, beim „Siegener Forum Gesundheit“ in der Cafeteria des Ev. Jung-Stilling-Krankenhauses. Organisiert wurde der Vortragsabend von der Selbsthilfekontaktstelle der Diakonie in Südwestfalen.
Wie sehr die Diagnose Blasenkrebs einen Einschnitt im Leben der Betroffenen bedeutet, verdeutlichte der Experte zu Beginn anhand des Beispiels aus dem Klinikalltag: Eine Frau, Mitte 50, gesunder Lebensstil, war beim Arzt vorstellig geworden, weil sie Blut im Urin bemerkt hatte. „Das ist immer ein Warnzeichen“, so Dr. Farzat. „Auch ständig wiederkehrende Blaseninfektionen, häufiger Harndrang und Schmerzen beim Wasserlassen sollte man abklären.“ Für die Patientin bringt die Untersuchung beim Urologen die bittere Gewissheit: Sie leidet unter einem muskelinvasiven Urothelzellkarzinom.
Blasenkrebs entsteht in den meisten Fällen aus den Zellen der Schleimhaut. Muskelinvasiv bedeutet, dass der Tumor bereits tiefere Muskelschichten der Blasenwand befallen hat. Auch können Krebszellen über Lymph- oder Blutgefäße auf benachbarte Gewebe und Organe streuen. „In solchen Fällen ist die vollständige Entfernung der Blase und der zugehörigen Lymphknoten die effektivste Therapie, um eine weitere Tumorausbreitung zu verhindern“, so Dr. Farzat. In der Regel werden bei einer radikalen Zystektomie beim Mann zusätzlich die Prostata und Samenblasen entfernt, bei Frauen Gebärmutter, Eileiter und Eierstöcke sowie der an den Muttermund angrenzende vordere Teil der Scheide.
Nach der Entfernung der Blase muss der Urin auf anderem Wege aus dem Körper. Daher ist die künftige Harnableitung ein wichtiger Teil des operativen Eingriffs. Zu den inkontinenten Methoden, bei denen der Urin konstant fließt und über einen künstlichen Ausgang in der Bauchdecke (Urostoma) in einem Beutel außerhalb des Körpers gesammelt wird, zählen etwa das Ileum-Conduit oder die Harnleiter-Haut-Fistel. Dort, wo es möglich ist, setzen die Mediziner heute jedoch vermehrt auf eine kontinente Variante: Die Neoblase ist ein operativ hergestelltes Reservoir im Körper, das sich kontrolliert entleeren lässt. Hierfür wird Gewebe (circa 50 bis 60 Zentimeter) aus dem Dünndarm (llleum) herausgeschnitten und daraus eine neue Blase geformt, die den Urin speichern und über die normalen Harnwege abgeben kann. Vorteil, so Dr. Farzat: „Viele Patienten können so wieder normal Wasser lassen und benötigen keinen dauerhaften Urinbeutel. Ziel ist es auch, die Sexualfunktion zu erhalten. Das bedeutet oft viel mehr Lebensqualität als bei den anderen Operationsmethoden.“
Allerdings kommt die Neoblase nicht für alle Patienten in Frage. „Eine wesentliche Voraussetzung ist, dass der obere Teil der Harnröhre nicht von Krebs betroffen ist“, erläuterte der Chefarzt. Weitere Ausschlussgründe könnten Funktionsstörungen der Niere, Darmerkrankungen, starkes Übergewicht, hohes Alter oder ein allgemein geschwächter Gesundheitszustand sein. Zwar werde der Eingriff heute zunehmend minimalinvasiv mit dem hochpräzisen Da-Vinci-OP-Roboter durchgeführt, was die Dauer der OP gegenüber früher deutlich reduziert hat und den Patienten eine deutlich schnellere Erholung ermöglicht, so Dr. Farzat. Dennoch gelte die Operation weiterhin als eine der aufwendigsten und schwierigsten in der Urologie. Schließlich muss während der mehrstündigen OP sowohl der Dünndarm wieder vernäht, als auch die Neoblase aus dem gewonnenen Darmgewebe konstruiert und mit den Harnleitern und der Harnröhre verbunden werden. Das Siegener Diakonie Klinikum zählt hier mit jährlich über 50 Eingriffen dieser Art bundesweit zu den größten Zentren.
Nach der OP verbleiben Patienten für circa drei Wochen im Krankenhaus. Nach etwa einer Woche werden die eingelegten Harnleiterschienen entfernt, ebenso zum Ende des stationären Aufenthalts und nach erfolgreicher Dichtigkeitsprüfung der Neoblase die beiden Katheter durch Harnröhre und Bauchdecke. Dr. Farzat machte deutlich, dass die Neoblase anfangs „kaum größer als ein Baseball ist“ und entsprechend wenig Urin speichern kann. Auch lässt sie sich nicht wie die ursprüngliche Harnblase durch eigene Muskelkraft zusammenziehen – man muss durch Drücken auf den Bauch oder durch Anwendung des Valsalva-Manövers (Druckaufbau durch Ausatmen bei zugehaltener Nase und verschlossenem Mund, wie man es z.B. als Druckausgleich im Flugzeug macht) nachhelfen. Außerdem müssen die Betroffenen keinen Harndrang verspüren, wenn die Neoblase voll ist. Tröpfelnde Inkontinenz sei somit anfangs gerade nachts oder auch in Stresssituationen völlig normal. „Es ist nach der OP daher sehr wichtig, den regelmäßigen Toilettengang zu trainieren.“ Patienten mit Neoblase empfiehlt der Urologe außerdem Beckenbodengymnastik: „Dadurch lässt sich die Urinkontrolle verbessern und erreichen, dass sie langfristig tagsüber wie nachts weitgehend trocken bleiben.“
Dr. Mahmoud Farzat, Chefarzt in der urologischen Abteilung am Diakonie Klinikum Jung-Stilling, skizzierte beim „Siegener Forum Gesundheit“, wie Krebspatienten, bei denen die Blase entnommen werden musste, mit einer Ersatz-Blase aus Darmgewebe zurechtkommen können. Foto: Diakonie in Südwestfalen
Hintergrund: Blasenkrebs
Harnblasenkrebs zählt zu den häufigsten Krebserkrankungen in Deutschland. Jährlich erkranken rund 30.000 Menschen daran, davon sind zwei Drittel Männer. Die meisten Fälle werden bei Menschen über 55 Jahren diagnostiziert, gleichwohl kann Blasenkrebs in jedem Alter auftreten. Als Hauptrisikofaktor gilt langjähriges Rauchen. Zudem treten gehäuft Blasentumore bei Patienten auf, die in ihrem Beruf über lange Zeit bestimmten chemischen Substanzen und Giften ausgesetzt waren. Etwa jeder vierte Blasenkrebs wird erst festgestellt, wenn dieser sich bereits im invasiven Stadium befindet.