(wS/red) Siegen 11.11.2019 | „Wir befinden uns im Prozess einer tiefen Krise“
Prof. Dr. Alex Demirović beschäftigte sich zum Auftakt der Vortragsreihe „Forum Siegen“ im Lÿz mit Wirklichkeit und Wahrheit.
„Erfundene Fakten, konstruierte Wirklichkeit: Wie können wir wissen, was wahr ist?“ – Das Thema von Forum Siegen im Wintersemester besticht durch Aktualität. So fiel es Prof. Dr. Alex Demirović von der Goethe-Universität in Frankfurt nicht schwer, seinen Vortrag „Materialismus – Konstruktivismus – Wahrheit“ mit zeitgemäßen Beispielen zu unterlegen. Begrüßt wurde der Philosoph und Soziologe von Dr. Feriha Özdemir sowie von Dr. Jürgen Daub (in Vertretung von Prof. Dr. Bergmann). Daub hieß Demirović willkommen als „kritischen Theoretiker“, der Widersprüche in der Gesellschaft beobachte und aufzeige.
Demirović verwies darauf, dass eine Krise der Wahrheit immer eine politische Frage sei und er deshalb nicht als Philosoph rede. „Wir ertragen es nicht, wenn es unwahr wird“, so der Referent eingangs. In Beziehung zu anderen könnten wir Unwahrheiten nicht hinnehmen: „Wir verbinden mit der Wahrheit etwas sehr Anspruchsvolles.“ Das treffe auf individuelle wie auch gemeinsame Praxis zu. Demirović: „Wahrheit ist etwas Lebenspraktisches. Wir wollen in der Wahrheit leben.“ Und dennoch gebe es bei „Wahrheit“ Konflikte um das, was als Wahrheit gelten soll. Bestenfalls würden diese in Argumentation und Analyse gelöst.
Spätestens seit 2016 mit der Wahl von Trump zum US-Präsidenten, AfD-Erstarken und Populismus sei eine neue Situation entstanden. Trump werde nachgesagt, mehr als 10.000 Mal die Unwahrheit gesagt zu haben. Schlussfolgerung: „Wir ertragen es doch, dass wir den Präsidenten einer Weltmacht ertragen müssen, von dem wir wissen, dass er ständig lügt.“ Wenn von Staats wegen nicht mehr die Wahrheit gesagt werde, könne das bei Menschen aber psychische Krankheitsbilder auslösen. Denn der Staat habe Wahrheit zu gewährleisten: „Wir befinden uns im Prozess einer tiefen Krise.“
Mit Verweis auf den Sozialphilosophen Max Horkheimer führte der Referent aus, dass es verschiedene Wirklichkeiten geben könne. Es könne auch sein, dass es unterschiedliche Wissenschaftsbegriffe gebe. Dann stelle sich die Frage nach Konsens(findung). Ein Blick auf die Judenverfolgung in Deutschland zeige, dass faktische Wahrheiten heute wieder verdreht werden. Manchmal würden Menschen auch in verschiedene Wirklichkeiten gezwungen.
Die klassische Sichtweise des Materialismus besage, dass es „da draußen“ eine Welt gebe, „in der wir uns bewegen müssen“. Materialismus und Religion gingen mit Blick auf die Determiniertheit – den Ablauf der Welt nach Gesetzmäßigkeiten und Bestimmtheiten – durchaus überein. Religion sei eine frühe Form der Aufklärung, der Suche nach Ursachen. Aber: „Wenn alles bestimmt ist, was ist dann mit unserer Freiheit?“ Wie viel Erkenntnis kann der Mensch gewinnen? Oder ist alles bloß Meinung? Wie ist es um die Meinungsfreiheit bestellt? Demirović: „Die Meinungsfreiheit hat sich zu etwas Fürchterlichem entwickelt. Man kann den größten Unsinn sagen.“ Die Welt löse sich in Talkshows und Relativismus auf. Auch die Wissenschaftler seien sich nicht immer einig: „Das ist der Sinn von Wissenschaft.“ Aber der Streit werde auf eine bestimmte Weise ausgetragen – durch Forschung und Empirie, offen nachvollziehbar. Weil die Spannung zwischen Wahrheiten und Wirklichkeiten so unerträglich sei, würden Forschungsberichte zum Teil nicht beachtet. Dahinter stehen meistens Machtinteressen einflussreicher gesellschaftlicher Gruppen oder Organisationen.
Demirović: „Wahrheit ist nicht so wie im Warenhaus. Man kann nicht darüber reden wie über einen Pullover.“ Wahrheit sei unangenehm, eventuell sogar unangenehm körperlich spürbar, manchmal auch überraschend irritierend. Wahrheit sei zudem verbindlich. Personen müssten dafür einstehen. Und Bezug nehmend auf Horkheimer führte der Referent aus, dass wir Menschen die Welt kennen, weil wir sie machen und verändern: „Nichts in dieser Welt ist nicht von uns berührt.“ Der Mensch entwickele Begrifflichkeiten. In einem von Demirović gewendeten Begriff des Konstruktivismus „machen wir die Gesetze durch gemeinsame Aktivität“, ganz praktisch. Historisch seien Wahrheiten und Wirklichkeiten relativ: „Wirklichkeit verändert sich. Wir schaffen ständig neue Wirklichkeiten durch unser Begreifen und praktisches Tun. Wir stellen Wirklichkeit her und können gestalten, Wirklichkeit, die von uns gemeinsam konstruiert ist.“
Am 21. November 2019, 19.30 Uhr, ist der Autor Deniz Utlu zu Gast zu Lesung und Gespräch. Dabei hat er sein neues Buch „Gegen Morgen“ (Suhrkamp Verlag).