Das Leben schreibt die besten Geschichten – Postkarten traten nach 80 Jahren den Rückweg an

(wS/nk) Neunkirchen 29.07.2022 | Ansichtskarten zu verschicken ist ein wenig aus der Mode gekommen. War die Postkarte – versehen mit dem Foto einer Landschaft oder Sehenswürdigkeit auf der Vorderseite – im letzten Jahrhundert noch die einzige Möglichkeit, Freunden und Verwandten eine visuelle Nachricht aus dem Urlaub zukommen zu lassen, haben ihr die digitalen Medien inzwischen den Rang abgelaufen. Wer was wann wo tut (und isst), kann man heutzutage dem WhatsApp-Status, Facebook- oder Insta-Post entnehmen.

Dennoch fanden vor kurzem einige Postkarten den Weg aus München in die Gemeindeverwaltung. Dies allein ist zweifellos keine Meldung wert, wohl aber die Geschichte dahinter:

Auf der Suche nach einem Karton entdeckte Mecit Bakir die Ansichtskarten im Altpapiercontainer hinter seinem Wohnhaus in Münchener Stadtteil Giesing. Es handelt sich um mehrere Schwarz-Weiß-Motive, die allesamt Ausschnitte aus Neunkirchen zeigen.
Drei der Karten sind beschriftet. Das Besondere: Sie stammen aus den 1940er Jahren. Mecit Bakir hörte im Neunkirchener Rathaus nach, ob man Interesse an den Karten habe.
Zugleich bat er den Onkel seiner Frau, eine der Karten zu „dechiffrieren“. Eine „Übersetzung“ war insofern hilfreich, als dass der Text in Sütterlinschrift verfasst worden war, eine Schreibschrift, die bis in die 1940er Jahre hinein an deutschen Schulen unterrichtet wurde.

Die Übersetzung kam per E-Mail und barg eine Überraschung: Die Verfasserin des Textes war Hilde Thiemann – und somit die Frau von Walter Thiemann.
Walter Thiemann ist in Neunkirchen kein Unbekannter. In Gronau, wo Thiemann als Gemeindepfarrer tätig war, wurde er 1939 wegen der angeblichen Störung einer nationalsozialistischen Trauerfeier festgenommen und in das Gestapo-Gefängnis nach Münster, später sogar in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Nachdem einem Gnadengesuch, betrieben von seiner Ehefrau und engen Freunden, stattgegeben wurde, kam Thiemann 1940 nach Neunkirchen. Bis 1946 war er hier als Pfarrer tätig. Er schrieb mehrere Bücher. Unter seinen Aufzeichnungen findet sich auch ein ausführlicher Tagebuchbericht zum Bombenangriff am 2. März 1944, bei dem er zwei seiner neun Kinder verlor.

In den Jahren 1941 und 1943, in denen die Karten verfasst wurden, befand sich Deutschland zwar im Krieg, der tragische Bombenangriff überschattete das Familienleben jedoch noch nicht. Den Recherchen zufolge hatte die Familie Thiemann in jener Zeit Kontakt zu dem Fotografen Max Prugger aus München. An ihn war eine der Karten adressiert. Und er war, bis zu seinem Tod 2003, auch wohnhaft an jener Adresse, an der Mecit Bakir fast 20 Jahre später zufällig auf die Zeitzeugnisse stieß.

Nun gibt es einerseits die historischen Fotos auf den Postkarten, die bestimmt im allgemeinen Interesse sind. Andererseits gibt es aber auch die persönlichen Informationen auf der Rückseite, die privaten Charakter haben. Wie also geht man mit den Postkarten um? Kann man sie dem Heimatmuseum zur Verfügung stellen? Oder gehören sie in den Besitz der Familie?

In diesem Zusammenhang kommt nun der Teil der Geschichte, den man schon kurios nennen möchte: Einen Besuch im Konzentrationslager Buchwald, also an jenem Ort, an dem ihr Großvater über Wochen interniert war, nahm die Enkeltochter von Walter Thiemann vor drei Jahren zum Anlass, sich mit der Geschichte ihrer Großeltern auseinanderzusetzen.

Katrin Thiemanns besonderes Interesse galt dabei ihrer Großmutter, der Frau hinter Walter Thiemann, die ihrem Mann den Rücken stärkte und sich zugleich um sieben Kinder kümmern musste. Sie begab sich auf Spurensuche und sichtete einen Wäschekorb voller Dokumente und jeder Menge Postkarten. Aus all diesen Puzzleteilen entstand schließlich „Helene“, die Heldin ihres Romans „In der zweiten Reihe“. Sie ist eng an Großmutter Hildegard angelehnt. Dass sich eine Lesung der Autorin in Neunkirchen und die Rückkehr der Postkarten ihrer Großmutter in die Hellergemeinde nun überschneiden, könnte man für eine perfekte PR-Aktion halten.

Und doch ist es purer Zufall, dass Mecit Bakir die Ansichtskarten, die vor mehr als 80 Jahren in der Druckerei Braun in Neunkirchen entstanden, in München gefunden und zurück nach Neunkirchen übersandt hat.
Wer Interesse an der Pfarrersgattin Hilde Thiemann gefunden hat, dem sei der 21. August ans Herz gelegt. Um 13.30 Uhr wird Katrin Thiemann die Geschichte ihrer Großmutter wieder zum Leben erwecken und im Haus Henrichs aus ihrem Erinnerungsroman lesen.

Nach fast 80 Jahren kehrten diese Postkarten aus München zurück nach Neunkirchen. Versendet wurden sie seinerzeit von Familie Thiemann.

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