(wS/uni) Siegen 05.07.2022 | Wenn Kinder von der Kita in die Grundschule kommen, verändert sich in ihrem Leben Einiges. Pädagoginnen der Uni Siegen unterstützen sie dabei und erforschen gleichzeitig, wie der Übergang bestmöglich gelingen kann.
Lineal, Radiergummi, Schlittschuhe – was gehört in den Schulranzen, was nicht? Sechs Kinder der Kita Ortsmitte in Geisweid sitzen konzentriert um einen Tisch. Thema heute: Der Ranzen-Führerschein. Vor jedem Kind liegt ein Arbeitsblatt, auf dem viele verschiedene Gegenstände abgebildet sind. Die Kinder sollen heute spielerisch ihren imaginären Schulranzen packen. Zuerst malen und schneiden sie die entsprechenden Gegenstände aus, dann kleben sie sie in ihren Führerschein. Am Tisch sitzen auch zwei Pädagoginnen der Universität Siegen. Sie lernen die Kinder im letzten Kita-Jahr kennen, bereiten sie gemeinsam mit den Erzieherinnen bestmöglich auf die Schule vor und unterstützen die Kinder dann weiter, wenn die erste Klasse der Grundschule beginnt. Seit 2019 arbeiten die Pädagoginnen der Uni Siegen in dem vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) und dem Europäischen Sozialfond finanzierten Projekt „Zusammen im Quartier – Kinder stärken – Zukunft sichern“ mit ausgewählten Kitas und Schulen sowie mit der Stadt Siegen zusammen. In jedem Jahr werden auf diese Weise bis zu 150 Kinder gefördert.
Auf dem Fischbacherberg und in Geisweid wollen die Bildungswissenschaftlerinnen vor allem jene Kinder erreichen, die ein hohes Risiko haben, von Armut betroffen oder bedroht zu sein. „Wir haben hier ein Einzugsgebiet mit vielen unterstützungsbedürftigen Familien, sehr viele Kinder haben einen Migrationshintergrund“, erklärt Ulrike Blechert, Leiterin des Familienzentrums Ortsmitte in Geisweid, eine der teilnehmenden Einrichtungen. „Wir haben uns entschieden, bei dem Projekt mitzumachen, weil wir unseren Kindern die bestmöglichen Chancen bieten möchten, einen möglichst guten Start in der Schule zu haben.“
Schwerpunkte der Förderung und der Forschung sind die emotionale und soziale Entwicklung sowie die Motorik. „In der Arbeit mit den Kindern geht es uns auch um Fähigkeiten, die erstmal ganz unspektakulär daherkommen, für den Schulalltag aber so etwas wie die Gelenkschmiere sind, um klarzukommen“, erklärt Melanie Lück, eine der Pädagoginnen der Uni Siegen. Zu diesen Fähigkeiten zählen z.B. die Impuls-Kontrolle, Konzentration, und die eigenen Emotionen regulieren zu können.
Damit die Kinder lernen, ihre Emotionen in Worte zu fassen, ist Löwe Lui in die Kita eingezogen. Das kleine Plüschtier ist bei jeder Gesprächsrunde dabei. Jedes Kind bekommt der Reihe nach den Löwen und erzählt kurz, wie es ihm an diesem Tag geht. Zur Unterstützung liegen Emotions-Karten auf dem Tisch: glücklich, begeistert, aufgeregt, wütend, traurig, ängstlich. Das Uni-Projekt startete kurz vor dem ersten Corona-Lockdown im Januar 2020.
Da Bildungswissenschaftler Prof. Daniel Mays von der Uni Siegen in jedem Jahr zu drei Zeitpunkten für sein begleitendes Lehrforschungsprojekt Entwicklungsdiagnostiken mit den Kindern durchführt, können die Pädagoginnen genau sagen, wie die Lage vor und wie sie nach dem ersten Lockdown aussah. „Insbesondere in den Bereichen ‚sozialkompetentes Handeln‘ und ‚Emotionsregulation‘ konnten wir im Zeitraum der Kita-Shutdowns signifikante Verschlechterungen und damit eine Erhöhung des Förderbedarfs mit starken bis mittleren Effekten unabhängig von Geschlecht und sprachlichen Hintergrund feststellen“, erklärt Carolin Quenzer-Alfred, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur.
„Die Uni hat dazu beigetragen, den Kontakt zur Schule gerade über die Zeit der Corona- Lockdowns sehr gut zu halten“, berichtet die Kita-Leiterin. Erzieherin Eva Hartmann ergänzt: „Der Kita Start nach den Lockdowns war eine Herausforderung. Es gab anfangs mehr Streitereien unter den Kindern, viele haben den Kita-Tag nicht mehr so gut geschafft wie zuvor. Mit den eigenen Gefühlen umzugehen ist vielen Kindern nach der langen Kita-Pause schwerer gefallen.“ Genau solche Regulationsmechanismen seien aber sehr wichtig, um mit herausfordernden Situationen klarzukommen, weiß Pädagogin Melanie Lück von der Uni Siegen.
Zum Beispiel damit, sehr aufgeregt zu sein, wenn die Schule losgeht.Durch die Entwicklungsdiagnostiken habe sich gezeigt, dass die Förderung und die Arbeit in den Kitas eine große Bedeutung für die Entwicklung der Kinder haben. Die Begleitung der Kinder setzt aber auf noch mehr als auf Förderung. Die Pädagoginnen der Uni fungieren als wichtige Bezugsperson ein bekanntes Gesicht in einer neuen Umgebung. „Die Kinder kennen die Mitarbeiterinnen aus der Kita und treffen sie in den Starter-Klassen an der Grundschule wieder“, sagt Kita-Leiterin Ulrike Blechert. „Die Scharnierfunktion der Pädagoginnen ist für die Kinder besonders wichtig.“ Gemeinsam mit den Erzieherinnen entwickeln die Pädagoginnen der Uni Siegen Handreichungen und Baukasten-Elemente, damit sie ihr Wissen und die Methoden künftig an noch mehr Kitas und Schulen weitergeben können.