Kunst und Pädagogik in hypermoralischen Zeiten: Ein Blick auf das Buch von Prof. Dr. Jürgen Nielsen-Sikora

(wS/uni) Siegen 11.08.2023 | Bildungsphilosoph Prof. Dr. Jürgen Nielsen-Sikora von der Universität Siegen  ist Mitautor eines Buchs über die rassismus- und geschlechterkritische Pädagogik und schreibt darin über Kunst in „hypermoralischer“ Zeit.

Der Untertitel des Buchs lautet „Zur Analyse und Kritik engagierter Pädagogiken“. Engagiert klingt erst mal positiv. Aber Sie meinen mit Engagement eher Übereifer, oder?

Die Übergänge sind in der Tat fließend. Wir haben uns pädagogische Ansätze angeschaut, die gesellschaftliche und politische Debatten auf die Pädagogik übertragen und dort zu lösen versuchen. Aber durch die überengagierte Auseinandersetzung wird eine Aushandlung über Rede und Widerrede oftmals verhindert.

Wird von Pädagoginnen und Pädagogen diese kritisch-aufmerksame Haltung nicht geradezu erwartet?

Die Aufgaben, die Pädagogen heute haben, sind immens. Positiv betrachtet kann man sagen, dass die Sensibilität für Verletzungen stark ausgeprägt ist, und die Debatten zeigen, dass es ein Bewusstsein für eine gerechtere Welt gibt. Das ist gut und wichtig. Problematisch wird es für mich, wenn es zu einer Art Übergriffigkeit kommt, einer Diskurskontrolle, weil man meint, in der Wahrheit zu wohnen und keine andere Perspektive mehr zulässt. Das ist das Problematische, auf das wir im Buch hinweisen.

Als Beispiel dient eine Erzieherin, die Michael Endes Kinderbuch „Jim Knopf“ aus der Kita verbannte, wegen der stereotypischen Darstellungen.

Ja, da schlägt Engagement in eine Art Übergriff in die Logik erziehungswissenschaftlicher Felder um. Aber es geht nicht nur um Kinderbücher. Kulturprodukte, die politisch umkämpft sind, sind vielfältig: vom Kinderspielzeug über Dreadlocks, bis hin zu Kunstwerken. Die Frage ist: Warum gibt es diese Konfliktlinien und wie verhält man sich pädagogisch und politisch angemessen? Wir wollen mit dem Buch eine sachliche Analyse liefern, das Thema auf ein wissenschaftliches Fundament zurückholen.

Sie sprechen im Buch von Hypermoral. Wann ist eine Kritik hypermoralisch?

Hypermoralisch sind für mich gesinnungsethische Ansprüche, die versuchen andere mundtot zu machen. Moral speist sich aus dem Diskurs, aus dem Begründen und Argumenten. Es ist ein Prozess des Aus- und Verhandelns. Hypermoral lässt das nicht zu. Da wird nur versucht, die eigene Sichtweise undiskutiert zu vermitteln.

Sie schreiben von „Erziehung der Blicke“ auf Kunst. Was meinen Sie damit?

Das heißt, dass die interpretative Offenheit der Kunst einer Debatte weicht, in der es darum geht, auf welche Art und Weise Kunstwerke betrachtet werden dürfen. Also was Kunst zeigen darf oder wie Geschichten erzählt werden dürfen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass man kritisch mit der Lektüre von Jim Knopf oder Winnetou umgeht. Ich finde es aber problematisch, wenn einzelne festgelegen: So ist das zu verstehen oder das kommt jetzt weg. Das gilt auch für den Museumsdirektor, der ein Bild abhängt, weil jemand moralische Kritik äußert. Wie soll man noch darüber diskutieren, wenn ein Werk nicht mehr da ist? Das funktioniert so nicht.

Andererseits ist es doch gut, dass die Sensibilität zum Beispiel in Sachen Rassismus, Sexismus oder Kolonialismus geschärft ist.

Ja, natürlich. Aber zur Sensibilität muss noch etwas dazu kommen. Es reicht nicht, nur eine Meinung zu haben, sondern man muss auch recherchieren, sich zum Beispiel mit Kulturhistorie auseinandersetzen. Das ist anstrengend und dazu sind viele nicht mehr bereit. Wenn man sich zum Beispiel die Debatte um die Musikerin Ronja Maltzahn anschaut, die – weil sie als weiße Frau Dreadlocks trägt – von einer Veranstaltung ausgeladen wurde. Kritisiert wurde die kulturelle Aneignung der Frisur, die als Symbol der Bürgerrechtsbewegung in den USA zu sehen sei. Aber das verkürzt die Historie. Dreadlocks gab es schon im Mittelalter. Das interessiert die Öffentlichkeit dann aber nicht mehr, weil die Debatte schon moralisch aufgeladen ist. Wer Dreadlocks trägt, wird verurteilt. Weitere Kontexte lässt man außer Acht.

Oder nehmen wir die Abbildung von Eugène Delacroix’ „Die Freiheit führt das Volk“, das eine barbusige Frau zeigt und von Facebook 2018 vorübergehend gesperrt wurde. Das Bild hat Symbolcharakter. Es ist eine Allegorie. Es geht nicht um die nackte Frau. Aber Hermeneutik des Bildes zu betreiben, ist dann vielen zu aufwendig. Das stört mich.

Wenn Sie das in einer Talkshow äußern würden, gäbe es wahrscheinlich heftige Reaktionen….

Ich denke nicht, dass ich in eine Talkshow gehen würde. Denn Talkshows machen ja genau das: Sie sind Verstärker von Kontroversen, ohne dass sie die Kontroversen auflösen möchten. Es geht nicht darum, Dinge zu verhandeln, sondern darum Meinungen zu manifestieren. Das ist das Problem in den Debatten. Mir geht es darum, Offenheit zu bewahren und vielleicht festzustellen: Oh, da hat der andere ein Argument, das besser oder stärker ist als meins. So läuft es aber in Talkshows und den meisten öffentlichen Debatten nicht. Das kritisieren wir auch im Buch. Es ist wichtig, sich auf Argumente zurückzubesinnen. Nicht nur Meinungen zu äußern, sondern diese auch zu belegen.

Gilt das auch für die Universität?

Ja, wir müssen uns immer wieder an unsere Kernkompetenzen erinnern, also dass wir lehren und lernen mit Argumenten umzugehen und anderen zuzuhören.

Prof. Dr. Jürgen Nielsen-Sikora von der Universität Siegen. (Foto: Universität Siegen)

Lisa Dillinger | Johannes Drerup | Phillip D. Th. Knobloch | Jürgen Nielsen-Sikora Jim Knopf, Gonzo und andere Aufreger 2023, 49,99 Euro, ISBN 978-3-662-66179-6. Auch als eBook verfügbar.

 

 

[plista widgetname=plista_widget_slide]