Analyse und Synthese – Die Fotokunst von Thomas Kellner – Ausstellung in Kreuztal

(wS/at) Kreuztal 30.09.2020 | Die Verwendung fotografischer Bilder im Kontext bildendender Kunst ist heute so selbstverständlich, dass es schwierig ist, sich den langen und oft hart geführten Grabenkampf vor Augen zu führen, der für ein gutes Jahrhundert die Debatten über die Produktion von Kunst geprägt hat. Insbesondere zwischen Malerei und Fotografie kam zu regelrechten Fehden, wenn es um die Übertragung und Interpretation der Welt als Bild ging. Zu objektiv sei das eine und zu subjektiv das andere. Es ist Künstlern wie Thomas Kellner zu verdanken, dass nach Jahrzehnten verbitterter Auseinandersetzung zwischen diesen zwei Lagern auch Versöhnung möglich ist – denn sein Werk ist sowohl zutiefst fotografisch als auch malerisch.

Ausgebildet wurde der Künstler an der Universität Siegen in den Fächern Kunst- und Sozialwissenschaften. Dort kam er mit experimentellen und künstlerischen Formen der Fotografie in Kontakt. Unter der Leitung von Fotograf und Professor Jürgen Königs beschäftigt er sich intensiv mit Möglichkeiten und Grenzen der Fotografie, von der Lochkamera zur Cyanotypie bis hin zum Gummidruck. Früh erhält er für diese Arbeiten Anerkennung, 1996 wird ihm der Kodak Nachwuchs Förderpreis verliehen. Seither folgten zahllose Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen im In- und Ausland, die Tätigkeit als Kurator für zeitgenössische Fotografie, der Ankauf seiner Werke durch große Sammlungen und die eigene Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten.

Seinen Erfolg verdankt er der gelungenen Mischung aus technischer Exzellenz im Medium und künstlerischem Feingefühl für die großen Umbrüche unserer Zeit. Kellners Bilder sind keine Fotografien im herkömmlichen Sinne. Sie sind penibel geplante Collagen, Montagen, Mosaike oder besser gesagt Bildarchitekturen. Mit einer analogen Spiegelreflexkamera ausgestattet unterteilt er seine Motive in Einzelbilder, die er anschließend im Studio zusammenfügt. Die Motive, häufig imposante Bauwerke oder bekannte Monumentalbauten, werden im Verlauf dieses Prozesses von Kellner analysiert und anschließend als Kontaktabzüge zu neuen Bildern synthetisiert. Der Fotokünstler belässt es aber nicht bei der Zerlegung und erneuten Zusammenführung, sondern er greift bewusst in die vorgefundene Architektur ein. Durch Drehungen und Verzerrungen finden die Bauwerke nicht mehr als ursprüngliches Ganzes zusammen, sondern geraten in Bewegung. Stabile Säulen werden zu Zickzacklinien, Flächen lösen sich auf und beginnen zu flackern, die Einheit zerfällt im Tanz. In der Bildwirkung begibt sich Kellner so in die Verwandtschaft von Kubisten und Surrealisten. Ganz so wie Robert Delaunay oder Lyonel Feininger, die großen Meister der malerischen Dekonstruktion und Mehransichtigkeit, schafft auch Thomas Kellner Ansichten, die nicht mehr von dieser Welt zu stammen scheinen und doch ganz eng mit ihr verknüpft sind. Vielleicht ist es genau diese Unmöglichkeit, eine Verortung oder Orientierung in seinen Bildern zu finden, die für die anhaltende Spannung im Werk des Künstlers sorgt.

Bestechend ist auch die Art, wie Form und Inhalt in seinem Werk zusammenfinden. Die in Fragmente aufgelöste Fotografie ist nicht nur Stilmittel, sondern bewusste Aussage. Denn damit thematisiert Kellner den vielleicht größten Umbruch, den das 20. Jahrhundert für die Wahrnehmung von Welt mit sich gebracht hat. Das vergangene Jahrhundert war geprägt von Zerstörung und Wiederaufbau. Die Wunden der großen Kriege und ideologischen Verwerfungslinien zogen sich ebenso durch Körper wie Ländergrenzen. Für kritische Geister kann es deshalb nicht mehr möglich sein, die Welt als Einheit zu begreifen. Zu offensichtlich sind die Nähte, Narben und Gräben, die durch massive Gewalt hinterlassen wurden. Dieses veränderte Bewusstsein von Welt findet Ausdruck in seiner einzigartigen Art, fotografische Bilder zu erzeugen. Er enthüllt die Bauwerke als Materie gewordene Behauptungen, die nicht mehr haltbar sind. Und indem er den Bauten durch seine Kameraarbeiten buchstäblich den Halt entzieht, gibt Kellner den Betrachtern die Möglichkeit, die Welt auf diese Weise zu sehen.

Thomas Kellner eröffnet seine Ausstellung auf dem Bahnsteig in Kreuztal (Foto: Ben Schlemper)

In dieser Spannung aus Teil und Ganzem zeigt sich, was nicht nur erfahrene Künstler, sondern jeder Mensch im Laufe seines Lebens zu meistern hat. Es geht darum, zu lernen, die Widersprüche in dieser Welt nicht nur auszuhalten, sondern sie als zentralen Teil des Lebens zu akzeptieren und im Idealfall sogar zu feiern. Diese Fähigkeit, die in vergangenen Jahren als Ambiguitätstoleranz auch breit in der Gesellschaft diskutiert wurde, scheint dem Fotokünstler Thomas Kellner angeboren zu sein. Nur so lässt sich die Leichtigkeit erklären, mit der seine Bilder diese Spannung halten. Nie scheinen sie erzwungen oder angestrengt. Es ist eine Meisterschaft, die vergleichbar ist mit Akrobaten, die selbst in Positionen größter Anstrengung völlig entspannt wirken.

Die fotografischen Bilder von Kellner tragen in sich, was jedes große Kunstwerk auszeichnet. Sie sind einerseits formal unwahrscheinlich überzeugend und ziehen den Betrachter ihrer Bildwirkung wegen in den Bann. Doch andererseits sind sie sperrig und verweigern an den entscheidenden Stellen den schnellen Konsum. Seine Bilder können nicht einfach an der Wand existieren und im Alltag verschwinden, sondern sie müssen betrachtet und entziffert werden. Sie fordern unsere Augen und unseren Verstand heraus, treffen uns emotional ebenso wie intellektuell. Sie sind gleichsam Dokumente unserer Zeit wie auch ein Kommentar zum Zustand der Welt.

Der Besuch einer Ausstellung mit Werken des Künstlers ist deshalb ein besonderes Erlebnis und wird in jedem Fall nachhaltig in den Erfahrungsschatz der Betrachter eingehen.

Das bisher größte Werk Kellners ist in Kreuztal noch bis zum 11. Dezember 2020 Montags bis Freitags von 7:00 – 16:00 Uhr zu sehen.

Fotos: Andreas Trojak / wirSiegen.de

Seit dem 24.09.2020 hängt die Ausstellung „The Big Picture“ von Thomas Kellner im Kulturbahnhof Kreuztal.

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