(wS/uni) Siegen 24.08.2023 | Eine neue Nachwuchsforschungsgruppe an der Uni Siegen untersucht die Beiträge von Frauen in der Physik- und Mathematikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ein Ziel des Projektes ist auch, zu einem neuen Verständnis von Wissenschaftsphilosophie und -geschichte beizutragen.
Die Kernspaltung, die DNA-Doppelhelix-Struktur, die Radioaktivität: Viele bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen gehen maßgeblich auf die Forschungsleistungen von Frauen zurück. Auch zahlreiche Ansätze und Theorien, die heute zum Grundbestand der mathematischen Physik zählen, wurden von Wissenschaftlerinnen (mit)entwickelt. Zu ihren Lebzeiten wurden sie jedoch häufig kaum für ihre Errungenschaften gewürdigt. Bis heute sind ihre Namen vielen Menschen unbekannt – während berühmte Physiker wie Albert Einstein, Max Planck oder Werner Heisenberg in aller Munde sind. Eine Nachwuchsforschungsgruppe am Department Mathematik der Universität Siegen hat es sich zum Ziel gesetzt, die Beiträge von Frauen in der Physik- und Mathematikgeschichte des 20. Jahrhunderts zu erforschen – und sogenannte „Gender Biases“ im Schnittfeld von Wissenschafts- und Philosophiegeschichtsschreibun
„Gender Biases sind systematische Verzerrungseffekte, die durch geschlechtsbezogene Vorurteile geprägt sind und zu Benachteiligungen führen“, erklärt die Leiterin der Siegener Nachwuchsforschungsgruppe, Dr. Andrea Reichenberger: „Gender Biases wirken nicht nur in unserer alltäglichen Kommunikation und Interaktion, sondern eben auch in der Wissenschaft und Forschung – und nicht zuletzt in der Wissenschaftsphilosophie und -geschichte. Uns geht es deshalb zum einen darum, den Anteil von Frauen an der Entstehung wichtiger Erkenntnisse in der mathematischen Physik neu zu bewerten. Zum anderen möchten wir neue Ansätze einer Philosophie und Geschichte der Wissenschaften vorstellen, indem wir innovative Perspektiven auf das Thema Gleichstellung aufzeigen.“
Ein Beispiel für die Unterbewertung der wissenschaftlichen Beiträge von Frauen ist die amerikanische Mathematikerin Christine Ladd-Franklin: Bis kurz vor ihrem Tod im Jahr 1930 wurde ihr von der John Hopkins University trotz erreichter Qualifikation der Doktortitel vorenthalten, weil sie eine Frau war. Dennoch waren ihre Beiträge in Philosophie, Logik, Mathematik und Psychologie sehr einflussreich und führten dazu, dass Ladd-Franklin in zahlreichen Publikationen zitiert wurde. Nach ihrem Tod geriet die Wissenschaftlerin jedoch rasch in Vergessenheit, stattdessen wurde ihr Lehrer, der Mathematiker und Philosoph Charles Sanders Peirce, als herausragender Logiker seiner Zeit gefeiert.
„Zu ihren Lebzeiten waren Christine Ladd-Franklins Arbeiten zur Algebra der Logik einflussreich und wichtig, das lässt sich auch statistisch nachweisen. Ihr Einfluss auf die Geschichte und Philosophie der Logik sollte daher angemessener eingeordnet werden“, sagt Jasmin Özel von der Siegener Forschungsgruppe.
Weitere Wissenschaftlerinnen, mit denen sich Andrea Reichenberger und ihr Team beschäftigen, sind unter anderen die französische Logikerin und Physikerin Paulette Destouches-Février oder auch die deutsch-australische Physikerin und Philosophin Ilse Rosenthal-Schneider. Rosenthal-Schneider promovierte 1920 an der Universität Berlin zum Thema „Das Raum-Zeit-Problem bei Kant und Einstein“, Albert Einstein begleitete die Arbeit in Gesprächen und Diskussionen. Doch trotz Empfehlungsschreiben von Einstein, Max Planck und Max von Laue erhielt die Wissenschaftlerin nach ihrer Emigration nach Australien nie mehr als eine Tutorenstelle. Und dennoch lieferte Rosenthal-Schneider mit ihrer unermüdlichen Lehr- und Publikationstätigkeit wichtige Impulse für das später gegründete Institut für „History and Philosophy of Science“ an der Universität Sydney.
Archivmaterial wie Briefe oder wissenschaftliche Aufsätze sind eine wichtige Quelle für die Siegener Forscher*innen. Neben der qualitativen Analyse solcher Texte erheben sie auch quantitative Daten, beispielsweise zur Anzahl der Zitierungen in wissenschaftlichen Publikationen. „Die Kombination von qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden ist sehr gewinnbringend, wenn es darum geht, sich dem tatsächlichen Anteil von Frauen in der Geschichte der Physik und Mathematik anzunähern“, erklärt Reichenberger. Der Blick auf die Historie habe zudem direkte Bezüge zu Gegenwart und Zukunft, betont sie: „Wird die scheinbare Abwesenheit von Frauen im wissenschaftlichen Kanon unhinterfragt fortgeschrieben, dann bleiben tief liegende, stereotype Denkmuster erhalten und werden von Generation zu Generation weitervererbt. Auf diese Machtstrukturen möchten wir aufmerksam machen.“
Hintergrund:
Die Nachwuchsforschungsgruppe „Geschichte und Philosophie neu denken: Frauen im Fokus“ wird von der Universität Siegen im Rahmen des Professorinnen-Programms von Bund und Ländern mit 420.000 Euro gefördert. Neben Dr. Andrea Reichenberger und Jasmin Özel gehören Julia Franke-Redding und Dr. Rudolf Meer zu der Siegener Nachwuchsforschungsgruppe. Meer ist mit einem Marie Curie STAR Fellowship aus Österreich an die Universität Siegen gekommen, um in der Gruppe zu forschen. Alle vier Wissenschaftler*innen sind ausgebildete Philosophie-Historiker*innen mit einem Schwerpunkt auf den Fächern Physik und Mathematik.