Wie der Einsatzführungsdienst der Luftwaffe zum ersten einsatzbereiten Teilbereich der „Einheits-Bundeswehr“ wurde und was das alles mit Erndtebrück zu tun hat…
(wS/bw) Erndtebrück | Der 25. Jahrestag der Wiedervereinigung nimmt im Gedenkjahr 2015 einen besonderen Platz ein. Zu Recht möchte man sagen, gehört die Einheit der beiden deutschen Staaten nach gut 45 Jahren der Teilung doch unbestritten zu den wichtigsten Ereignissen der Nachkriegsgeschichte. Den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Folgen wurde im Zuge der Feierlichkeiten viel Aufmerksamkeit seitens der Medien und in der Fachwelt zuteil. Vergessen wird allerdings zumeist, dass auch die Bundeswehr (Bw) und ebenso Teile der Nationalen Volksarmee (NVA) einen immensen Beitrag zur geglückten Wiedervereinigung leisteten. Doch zunächst noch einen Schritt vor, zum Sommer 1990.
Souveränität im Luftraum
Nach dem Mauerfall und dem totalen Machtverlust der SED bei den Volkskammerwahlen im Frühjahr 1990 liefen die sogenannten Zwei-plus-Vier-Verhandlungen auf Hochtouren. Es stand bereits fest, dass die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten in nächster Zukunft vollzogen werden könnte. Nun galt es, in Verhandlungen mit den Besatzungsmächten USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion die Einzelheiten und Abläufe zu erörtern. Eine gewichtige Frage war auch jene nach der Souveränität im Luftraum über dem Beitrittsgebiet. Bestanden die Vertreter Sowjetrusslands noch zunächst darauf, dass die Überwachung und Sicherung des Luftraums bis zum geplanten vollständigen Abzug der russischen Besatzungskräfte bis Ende 1994 Sache der sowjetischen Luftstreitkräfte sein solle, konnten die bundesdeutschen Diplomaten nach zähen Verhandlungen jedoch erreichen, dass die Souveränität im Luftraum über Deutschland Aufgabe der Bundesrepublik wurde.
Schnelle pragmatische Lösung gesucht
Die Grundlage für die Wahrung der Integrität des Luftraumes besteht in der Fähigkeit, diesen effektiv zu überwachen und Maßnahmen gegen etwaige Luftraumverletzer und Aggressoren ergreifen zu können. Im Kalten Krieg war diese Aufgabe von höchster sicherheitspolitischer Bedeutung zunächst von den Besatzungsmächten übernommen wurden. In den sechziger Jahren kamen schließlich die deutschen Truppenteile in ihren jeweiligen Armeen und Bündnissen dazu: im Osten die Funktechnischen Truppen der Luftstreitkräfte der NVA für den Warschauer Pakt, im Westen der Radarführungsdienst (der Vorläufer des heutigen Einsatzführungsdienst) als Teil der Bundesluftwaffe für die NATO. Letzterer stand nun angesichts der anstehenden Wiedervereinigung vor der schwierigen Aufgabe, dass der Luftraum über den neuen Bundesländern ab dem 3. Oktober 1990 lückenlos überwacht werden musste. Bei der Realisierung des Projektes konnten sich die Verantwortlichen nicht auf die Unterstützung der NATO-Partner verlassen, denn eine Auflage der Sowjets im Vertragswerk verbot den Einsatz von NATO-Streitkräften in den neuen Bundesländern bis zum endgültigen Abzug aller russischen Truppenteile. Die Luftwaffe (Lw) musste das Problem also in eigener, heißt nationaler Verantwortlichkeit lösen. Schnell stellte sich heraus, dass die Luftraumüberwachung in den neuen Bundesländern ohne den Einsatz von Personal und Technik der Funktechnischen Truppen nicht zu machen sei. Deren taktisches Konzept unterschied sich jedoch grundlegend von jenem des Radarführungsdienstes, zudem war die verwendete sowjetische Technik nicht mit dessen Radargeräten und Führungssystemen der Luftwaffe kompatibel. Angesichts der knappen verbleibenden Zeit galt es, schnelle und pragmatische Lösungen zu finden.
Gefechtsstand zur Überwachung des ostdeutschen Luftraumes in Erndtebrück
Nachdem sich im Hochsommer 1990 einige Luftwaffenoffiziere durch Reisen zu verschiedenen Truppenteilen der Funktechnischen Truppen ein Bild von deren Ausbildungsstand und der verfügbaren Ausrüstung gemacht hatten, wurde der Beschluss gefasst, dass Teile der Funktechnischen Truppen auch nach der Wiedervereinigung für eine begrenzte Zeit im Dienst belassen werden sollten, um mit ihren Radargeräten den ostdeutschen Luftraum weiterhin zu überwachen. Das Problem der Datenanbindung sollte mithilfe eines vergleichsweise einfachen Systems zur Darstellung der Luftlage gelöst werden, welches die NVA im Selbstbau entwickelt hatte. Dieses sollte in eine westdeutsche Luftverteidigungsstellung gebracht und über Telefonleitungen an den NVA-Gefechtsstand Fürstenwalde angeschlossen werden, bei welchem alle Luftlagedaten Ostdeutschlands zunächst gesammelt wurden. Die Wahl fiel dabei auf Erndtebrück, denn obwohl sich im Bunker „Erich“ ein Control and Reporting Center (CRC) der NATO befand, hatte man aufgrund der hier ebenfalls stationierten Ausbildungskomponenten ausreichende Kapazitäten, um auch noch einen nationalen Gefechtsstand samt Technik zur Überwachung des ostdeutschen Luftraumes unterzubringen.
Operation am „offenen Herzen“
Erst Ende September traf ein kleines Team der NVA ein, um die mitgebrachte Technik im Bunker Erich zu installieren. Man kann heute wohl nur schwer nachvollziehen, wie sich die Soldaten beider Seiten dabei gefühlt haben. Einerseits die Soldaten der Funktechnischen Truppen, deren Staat in einigen Tagen aufhören sollte zu existieren, deren Material und Expertise aber noch für die Zukunft gebraucht wurde. Andererseits jene Soldaten der Luftwaffe, die ihren ehemaligen Feinden Zutritt zu einer geheimen Luftwaffenkampfführungsanlage gewähren mussten und bald eine noch vor kurzem unvorstellbare Aufgabe zu übernehmen hatten. Nach einer kurzen, aber sehr intensiven Arbeitsphase war die Operation am „offenen Herzen“ jedoch geglückt: der Wiedervereinigung stand auch von Seiten der Luftwaffe nichts mehr im Wege. Mit Hilfe der Daten, die das amerikanischen Radar am Berliner Flughafen Tempelhof sowie die Radarstellungen der Funktechnischen Truppen lieferten, überwachten ab dem 3. Oktober, 0 Uhr, Stabsoffiziere des Radarführungsdienst von Erndtebrück aus den Luftraum über den neuen deutschen Bundesländern. Die nationale Alarmrotte, das heißt jene Flugzeuge, welche zum Abfangen von Luftraumverletzern und etwaigen Feindflugzeugen über Ostdeutschland bestimmt waren, stellten Geschwader aus Pferdsfeld und Rheine/Hopsten.
Nationale Luftraumüberwachung
Erst im Oktober 1992 wurde die Zweiteilung des Nationalen Sector Operation Center (NSOC) aufgehoben, indem der nationale Gefechtsstand Erndtebrück die alleinige Verantwortung für die Luftraumüberwachung Ostdeutschlands an den Gefechtsstand Fürstenwalde abgab, welcher bisher hauptsächlich eine Relaisfunktion innehatte, durch Baumaßnahmen und Ausbildung des Personals aber nun zur alleinigen Überwachung fähig war. Jedoch war auch dieses Kapitel letztlich nur ein Zwischenspiel, denn mit dem vollständigen Abzug der russischen Besatzungstruppen und der zum Jahresbeginn 1995 vollzogenen Integration der neuen Bundesländer in die Bündnisstruktur der NATO entfiel die Notwendigkeit einer nationalen Luftraumüberwachung. Die Aufgabe wurde zwar auch fortan von der Bundeswehr übernommen, allerdings wieder im Auftrag und in der Organisationsstruktur der NATO, der nun auch die jungen ostdeutschen Verbände des Radarführungsdienstes unterstanden. Da sich der Ausbau der Infrastruktur noch länger hinzog, konnte das letzte Radargerät sowjetischer Bauart erst 1998 abgeschaltet werden.
Luftwaffen „Immer im Einsatz“
Die Integration von Teilen der Funktechnischen Truppen der NVA in den Radarführungsdienst der Luftwaffe kann als erstes erfolgreiches militärisches Projekt der deutschen Einheit begriffen werden, denn noch bevor die Wiedervereinigung am 03. Oktober 1990 formal vollzogen wurde, stand der Radarführungsdienst als erster einsatzbereiter Dienstteilbereich der „Einheits-Bundeswehr“ bereit, um die Sicherheit im deutschen Luftraum zu gewährleisten. Dieser Prozess war letztlich nur durch den vorbehaltlosen Einsatz und die hohe Professionalität aller Beteiligten aus Ost und West möglich. Angesichts des gemeinsamen Auftrages waren selbst jahrzehntelang aufgebaute Feindbilder in kürzester Zeit überwunden worden. Den Luftwaffen-Slogan „Immer im Einsatz“ dürfen die Soldaten des damaligen Radar- und heutigen Einsatzführungsdienstes nach gut fünfundfünzigjährigem, ununterbrochenem Dienst zur Sicherung des Luftraumes somit in besonderem Maße auf sich beziehen. (Text: Christian Hauck)
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