Studie enthüllt: „Das deutsche System ist eine Zumutung“

(wS/uni) Siegen 22.05.2023 | Deutschland schneidet nicht gut ab, wenn es um die Koordinierung von Gesundheitsversorgung und  Pflege geht. Das haben Wissenschaftler der Uni Siegen und des Mannheimer Zentrums für  europäische Sozialforschung herausgefunden. Für ihre Studie haben sie die Situation in Deutschland,  Schweden, den Niederlanden und der Schweiz verglichen.

Eine Seniorin erleidet einen Oberschenkelhalsbruch. Nach der stationären Behandlung im Krankenhaus  möchte sie gerne weiter selbstständig in der eigenen Wohnung leben. Dazu benötigt die Patientin jedoch  auf unbestimmte Zeit professionelle Hilfe. Solche und ähnliche Schicksale erleben gerade ältere  Menschen sehr häufig. Dann muss innerhalb kürzester Zeit das komplette Alltagsleben neu organisiert  werden. Wie stark die Patient*innen und ihre Angehörigen dabei unterstützt werden, ist international  sehr unterschiedlich. Das ist das Ergebnis einer vergleichenden Studie zum Übergang von der  Krankenhausversorgung zur Anschlussversorgung zu Hause bzw. im Heim. Wissenschaftler der  Universität Siegen und des Mannheimer Zentrums für europäische Sozialforschung haben die Situation in  Schweden, den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland verglichen. Deutschland kommt dabei am  schlechtesten weg – es fehlt an funktionierenden Strukturen, qualifiziertem Personal und klaren Zuständigkeiten.

„In Deutschland ist es in erster Linie Aufgabe der Patientinnen und Patienten sowie ihrer Angehörigen,  notwendige Pflegeleistungen nach einem Krankenhausaufenthalt zu organisieren“, erklärt der Siegener  Gesundheitssoziologe und Leiter der Studie, Prof. Dr. Claus Wendt. Die einzige Schnittstelle zwischen  stationärer und ambulanter Versorgung sei das Entlass-Management der Krankenhäuser. Jedoch stehe dort häufig zu wenig Zeit zur Verfügung: Durch die Finanzierung der Krankenhausleistungen nach  Fallpauschalen habe sich die Verweildauer im Krankenhaus seit den 90er Jahren immer weiter verkürzt.
Unter den aktuellen Bedingungen sei das deutsche System „für alle Beteiligten eine Zumutung“, sagt  Wendt: „Ältere Menschen benötigen meist unterschiedliche Leistungen und sind auf die Kooperation  mehrerer Anbieter angewiesen. Das macht die Sache komplex – zumal es in Deutschland kein digitales  System gibt, in dem Pflegedienste und -Einrichtungen mit ihren Kapazitäten erfasst sind. Dann haben Sie  in einer Region zehn verschiedene Anbieter – wissen aber nicht: Wo sind noch Plätze frei?“

In keinem der drei Vergleichsländer sind Patienten und ihre Familien so sehr auf sich gestellt, wie in  Deutschland, zeigt die aktuelle Studie.

So gibt es beispielsweise in den Niederlanden und in Schweden ein klares Hausarzt-System: Jeder ist dort in die Liste eines Hausarztes oder einer Hausärztin  eingetragen. Die Ärzte sind für die Einweisung ins Krankenhaus zuständig – und werden informiert,  sobald die Entlassung ansteht. Als Primärversorger seien die Hausärzt*innen dann automatisch in die  Organisation der notwendigen Pflegeleistungen eingebunden und übernehmen die Koordination mit  dem Krankenhaus, berichtet Wendt: „In Deutschland denken wir so gar nicht. Bei uns sind der ambulante und der stationäre Sektor strikt voneinander getrennt.“

Neben den Hausärzten sind in anderen Ländern auch die Kommunen in die Koordination von  Pflegeleistungen eingebunden. Beispiel Schweiz: Als nicht-kommerzielle Akteure unterstützen  Kommunen ältere Menschen dort umfassend, Pflegeleistungen und Dienste wie Einkäufe, Essen auf  Rädern oder Behördengänge zu organisieren. „In Deutschland könnten sich die Kommunen zum Beispiel  über die Pflegestützpunkte stärker einbringen, die aktuell in einigen Bundesländern aufgebaut werden“,
sagt Wendt. Pflegestützpunkte werden auf Initiative der Länder von den Kranken- und Pflegekassen  eingerichtet und sollen jeweils vor Ort das gesamte Leistungsspektrum für Pflegebedürftige organisieren.  Für Wendt ein „Schritt in die richtige Richtung“, aber: „Leider gibt es die Stützpunkte noch nicht überall.“

Auch an qualifiziertem Personal mangelt es hierzulande. So gebe es in Schweden und in den  Niederlanden so genannte „Nurse Practitioners“, berichtet Wendt – hochqualifizierte Pflege-Experten, die als Angestellte der Kommunen (Schweden) oder der Sozialversicherungen  (Niederlande) ebenfalls wichtige Koordinationsleistungen übernehmen. „In Deutschland hinken wir bei  der Akademisierung der Pflege weit hinterher. Dabei ist der Druck schon jetzt hoch und wird angesichts  des demografischen Wandels noch steigen.“

Um die Situation für Patienten und ihre Angehörigen in Deutschland zu verbessern, empfiehlt Wendt  den Aufbau größerer Strukturen: Ambulante Medizinische Versorgungszentren und große  Krankenhauszentren könnten mehr Aufgaben bei der Koordination von Pflegeleistungen übernehmen.
Auch die Kommunen müssten stärker eingebunden – dafür aber auch an der Finanzierung beteiligt  werden, fordert Wendt. Den Aufbau als Sozialversicherungssystem ohne intensive Einbindung der  Kommunen sieht er als eine Fehlentwicklung an. Neben solchen strukturellen Voraussetzungen bräuchte  es mehr qualifiziertes Pflegepersonal und eine bessere digitale Infrastruktur. Last but not least fordert  der Gesundheitswissenschaftler, die finanzielle Trennung zwischen ambulantem, stationärem und  Pflege-Bereich durch übergreifende Finanzierungselemente aufzuheben: „Das würde eine kontinuierliche  Versorgung erleichtern und organisatorische Hürden abbauen.“

Hintergrund:
Für die Studie führten die Wissenschaftler in den vier Ländern ausführliche Interviews mit  Organisationen und Akteuren, die für die Organisation und Durchführung von Pflege zuständig sind.
Außerdem wurden die jeweiligen institutionellen Voraussetzungen erhoben. Die Studie wurde von der  Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit rund 500.000 Euro gefördert. Basierend auf ihren  Ergebnissen hat das Forschungsteam ein Buch veröffentlicht, das in Kürze im internationalen Edward  Elgar Verlag erscheint: „Healthcare and Elderly Care in Europe: Institutions, Challenges, and Solutions for  Better Coordination“


Prof. Dr. Claus Wend

Foto: Uni Siegen
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