Zwischen Patientenwille und Ärztepflicht

(wS/dia) Siegen 15.11.2022 | Vorträge im Diakonie Klinikum Jung-Stilling beleuchteten Grauzonen im Umgang mit Patientenverfügungen

Schicksalsschläge wie Unfälle oder schwere Erkrankungen können jeden treffen. Für den Fall, dass es nicht mehr möglich ist, selbst über medizinische und pflegerische Maßnahmen zu entscheiden, kann eine Patientenverfügung sinnvoll sein. Doch nicht immer ist damit alles geklärt –vor allem wenn der Patientenwille nur vage hinterlegt ist oder medizinisch sogar eine positive Prognose besteht. Mit dieser Problematik beschäftigte sich ein Vortragsseminar im voll besetzten Hörsaal des Siegener Diakonie Klinikums Jung-Stilling. Die Quintessenz: Der Wunsch des Betroffenen entbindet den Arzt keineswegs von seiner Verantwortung. Und aus Patientensicht ist es ratsam, eine Verfügung möglichst konkret zu formulieren und nach gewisser Zeit zu überarbeiten.

Organisiert hatte die Fortbildung für Ärzte und Pflegekräfte Professor Veit Braun, Chefarzt der Neurochirurgie. Das Thema schlage immer häufiger auf und sorge gerade unter jüngeren Kollegen für Verunsicherung.

Bisweilen werde eine Patientenverfügung sogar als Verbot für therapeutische Maßnahmen erachtet – sei es von den Ärzten selbst oder auch von den Angehörigen. Aber ist das so?
Um Licht ins Dunkel zu bringen, hatte Braun zwei hochkarätige Experten eingeladen: Professor Dr. Carl-Friedrich Gethmann, Dozent für Medizinethik an der Lebenswissenschaftlichen Fakultät der Universität Siegen und bis 2021 Mitglied des Deutschen Ethikrats, sowie Dr. Wilhelm Wolf, Präsident des Staatsgerichtshofs Hessen sowie des Landgerichts Frankfurt. In den meisten Fällen muss abgewogen werden.

Ist im Zweifel der Wille des Patienten oder dessen Lebensschutz höher zu bewerten? Aus ethischer Sicht verdeutlichte Philosoph Gethmann, dass der Mediziner bei dieser Frage stets mit in der Verantwortung steht: „An der ärztlichen Abwägung führt kein Weg vorbei.“ Sobald eine Patientenverfügung vorliege, bestehe eine Verpflichtung, diese zu berücksichtigen, „allerdings nicht unter allen Umständen“. Bisweilen gebe es Einschränkungen. Als Beispiel nannte Gethmann eine Patientenverfügung, der bereits vor Jahren verfasst wurde – und damit in Unkenntnis zwischenzeitlicher Fortschritte in der Medizin. Auch könnten sich die Präferenzen des Patienten verändert haben, etwa durch das eigene Lebensalter oder den Tod des Lebenspartners. Bedenken könnten sich auch durch die Art, wie die Verfügung formuliert ist, ergeben, ebenso bei Zweifeln an der Entscheidungsfähigkeit des Patienten. Und auch die Prognostizierbarkeit des Therapieverlaufs könne bei der Frage, ob der Verfügung nachzukommen ist, eine Rolle spielen.

Gethmann ging ferner auf die besondere Beziehung zwischen Arzt und Patient ein. Zwar seien die Zeiten vorbei, in denen der „Doktor“ bevormundend verordnete, was für den Erkrankten „gut ist“. Und natürlich habe der Patient das Recht, therapeutische Maßnahmen abzulehnen. Dennoch sei dessen Wunsch keinesfalls letzte normative Instanz. „Dadurch würde der Sachverstand des Arztes komplett relativiert“, betonte Gethmann. Der Arzt indes stehe in der Pflicht, seinen Patienten in die bestmögliche Entscheidungsfähigkeit zu versetzen. Allerdings werde es immer wieder Fälle geben, in denen der Betroffene sich nicht (mehr) selbstbestimmt äußern kann. Hier helfe bisweilen ein fiktiver Diskurs – auch unter Einbeziehung der Angehörigen, so Gethmann: „Was würde der Patient sagen, wenn er bei sich wäre?“

Angehörige rein rechtlich ohne Mitbestimmung
Dass vor allem unklar formulierte Verfügungen im Klinikalltag häufig für Verunsicherung sorgen, weiß auch Dr. Wilhelm Wolf. Der Richter beleuchtete die Problematik aus juristischer Perspektive. Fakt ist:

Grundsätzlich ist die Willensbekundung eines Patienten erst einmal bindend, sofern sie schriftlich vorliegt und der Betroffene volljährig ist. Doch auch der Wunsch eines 16-Jährigen beispielsweise dürfe nicht einfach ignoriert werden, so Wolf. Allerdings müssen Patientenverfügungen laut eines Urteils des Bundesgerichtshofs möglichst konkret abgefasst sein. Demnach sind Formulierungen wie „keine lebenserhaltenden Maßnahmen” oder „Es soll dafür gesorgt werden, dass ich würdevoll sterbe“ nicht ausreichend. Auch könne die Wahl eines bestimmten Arztes oder einer Klinik nicht Gegenstand einer Patientenverfügung sein. Idealerweise sollte eine ärztliche Aufklärung stattfinden und in der Niederschrift dokumentiert werden.

In der Realität werde es immer wieder Grauzonen geben, so Wolf, was sich allein schon durch die jeweilige Krankheitssituation ergibt und der Maßnahmen, die abgelehnt werden. Juristisch sei daher jeder Fall für sich zu beurteilen. Ausschlaggebend sei dabei nicht die Geschäftsfähigkeit des Patienten, sondern die Bewertung seiner „natürlichen Denk- und Steuerungsfähigkeit“. Folglich könnten bereits Zweifel aufkommen, wenn der Betroffene unter Medikamenteneinfluss steht. Nicht minder problematisch: Verfügungen, die auf konkrete Krankheitsbilder festgelegt sind. Als Beispiel nannte Wolf einen Darmkrebs-Patienten, der mit einem Schlaganfall in der Neurologie liegt.

Doch wer entscheidet nun darüber, wie eine Verfügung zu deuten, was zu tun und was zu unterlassen ist? Die Angehörigen, so machte Dr. Wolf deutlich, spielen bei dieser Frage rein rechtlich
erst mal keine Rolle, „auch wenn sie es oftmals nicht verstehen und bisweilen auch nicht akzeptiere werden“. Anders sieht es bei einem gesetzlich eingesetzten Betreuer aus. Jurist rät:

Im Zweifel Betreuungsgericht einschalten

Über allem stehe zunächst jedoch die Prüfungspflicht der Ärzte. Sie müssen den Wunsch des Patienten und dessen jeweilige Lebens- und Behandlungssituation bewerten. „Diesen Konflikt“, betonte Wolf, „kann Ihnen das Recht leider nicht ersparen.“ In Ausübung dieser Verantwortung könnten Ärzte im schlimmsten Fall sogar straf-, haftungs- und standesrechtlich belangt werden – bis hin zur Entziehung der Approbation. Allerdings lasse sich dieses Risiko minimieren, indem in Zweifelsfällen das Betreuungsgericht hinzugezogen wird. Dieses entscheide auf Basis der Sachlage und – sofern der Zeitfaktor es zulässt – eines medizinischen Gutachtens. Für Kliniken seien institutionalisierte Abläufe hier „absolut vorteilhaft“.

Nach einer abschließenden Fragerunde bedankten sich der Geschäftsführer des Diakonie Klinikums, Dr. Josef Rosenbauer, und Professor Braun als Organisator der Veranstaltung bei den Referenten. Diese hätten mit ihren tiefgehenden Vorträgen Leitplanken für ethisches und rechtssicheres Handeln aufgezeigt – bei einem Thema, das im Krankenhausalltag mehr und mehr eine wichtige Rolle spielt.

Im Anschluss an eine aufschlussreiche Veranstaltung zum Thema Patientenverfügung im Diakonie Klinikum Jung-Stilling bedankte sich Geschäftsführer Dr. Josef Rosenbauer (links) bei den Referenten Dr. Wilhelm Wolf (Mitte) und Professor Dr. Carl-Friedrich Gethmann.

Infokasten:
Wer entscheidet, wenn ich selbst nicht mehr dazu in der Lage bin? Wie halte ich fest, wie ich medizinisch behandelt werden möchte? Jeder Mensch kann aufgrund von Alter, Krankheit oder eines
Unfalls in eine Situation geraten, in der er selbst seinen Willen nicht äußern kann. Um die Gewissheit zu haben, dass auch dann im eigenen Sinne gehandelt wird, bietet die Diakonie in Südwestfalen seit geraumer Zeit die Broschüre Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung an.

Zu finden ist sie hier als kostenloser Download:

https://www.diakonie-sw.de/aktuelles/publikationen/

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