Krise im Sozialsektor – „Nicht nur in den KiTas brennt der Baum“

(wS/dia) Siegen 13.12.2023 | Die bedrückende Stimmung war deutlich spürbar am Abend des 7. Dezember im Atriumsaal der Siegerlandhalle. Die Arbeitsgemeinschaft Wohlfahrt, bestehend aus den regionalen Verbänden der AWO, der Caritas, der Diakonie, des DRK und des Paritätischen, hatten im Rahmen ihrer Veranstaltungsreihe „Wohlfahrt im Dialog“ eingeladen, um gemeinsam mit politischen Vertretern über die aktuelle Krise im Sozialen Sektor zu diskutieren. Rund 200 Menschen waren gekommen, um der Diskussion beizuwohnen – der Saal übervoll. Durch das Programm führte Moderator Tom Schirmer.

In den Verbänden der AG-Wohlfahrt arbeiten mehr als 10.000 Menschen, mehr als 2.300 von ihnen in den Kindertagesstätten. „In Siegen-Wittgenstein leben rund 16.200 Kinder unter 6 Jahren. Fast
8.500 von ihnen, also mehr als die Hälfte aller Kinder, die in Siegen Wittgenstein eine Betreuung besuchen, gehen in eine der rund 200 KiTas unserer Wohlfahrtsverbände,“ so Dr. Martin Horchler, Vorstand
des DRK-Kreisverbandes Siegen-Wittgenstein und aktuell Sprecher der AG-Wohlfahrt, in seiner Einführung. „Das bedeutet: An unseren KiTas hängen 8.500 Familien, Eltern, Erziehende, denen die Betreuung ihrer
Kinder ihre Teilnahme an der Erwerbstätigkeit sichert.“ Und eben diese verlässliche Betreuung können die KiTas künftig nicht mehr in dem bisherigen Umfang gewährleisten. Die Personaldecke dünnt sich aus und der Personalmangel nimmt zu. Hinzu kommt die finanzielle Notlage der Träger – öffentliche Mittel werden aufgrund knapper Kassen und Nothaushalte nicht mehr in auskömmlichem Maße zur Verfügung gestellt. Die Aussichten: Düster. Manchen Angeboten droht das Aus und zwar schon ab 2024.

Dazu Jens Hunecke, Geschäftsführer des AWO-Kreisverbandes Siegen-Wittgenstein / Olpe: „Wir reden hier von 5 Mio. Euro, die in unseren KiTas kreisweit fehlen. Wenn dieses Geld nicht fließt, sind die Folgen
drastisch – Öffnungszeiten müssen reduziert werden, Notbetriebe gefahren werden. Fehlende Betreuungszeit, die zulasten der Eltern geht.“

Der Notbetrieb betrifft dabei nicht nur die KiTas, sondern die Wohlfahrtsverbände in Gänze – zum Beispiel kündigte der Vorstand eines Trägers bei der Veranstaltung an, dass ein Beratungsangebot für traumatisierte Menschen wohl eingestellt werden müsse, weil es nicht mehr finanzierbar sei. Jens Hunecke: „Die Folgen werden weitreichend sein. Wir werden all unsere angebotenen Dienste auf ein Minimum
herunterfahren müssen, damit die Verbände diese Krise überleben.“

Heike Deimel, Referatsleiterin Tageseinrichtungen für Kinder beim Caritasverband für das Erzbistum Paderborn, erläuterte in ihrem Impulsvortrag die Grundsätze des „KiBiz.“ Das „KiBiz“ regelt die
rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen der Kindertagesbetreuung in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege in Nordrhein-Westfalen. „Allerdings ist die finanzielle
Unterstützung des Landes in Form des KiBiZ nicht mehr auskömmlich, auch weil dort Krisen oder besondere aktuelle Herausforderungen nicht kurzfristig berücksichtigt werden können. Die Zuschüsse kommen erst mit eineinhalb Jahren Verzögerung an.“

Die politischen Vertreter in der Runde, Jens Kamieth, Mitglied des Landtages Nordrhein-Westfalen, Ralf Pohlmann, Sachgebietsleiter Tagesbetreuung für Kinder beim Jugendamt des Kreises Siegen-
Wittgenstein und Andree Schmidt, Dezernent der Universitätsstadt Stadt Siegen für Kinder, Jugend und Familie, Bildung, Soziales und Wohnen, stellten sich der Diskussion, betonten aber auch immer wieder, dass die
Haushalte überlastet und die Mittel ausgeschöpft seien. Jens Kamieth stellte heraus, dass die Krise im Sozialen Sektor im Landtag angekommen sei: „Uns ist die Notlage in den KiTas sehr
bewusst und ich würde mir vor allem wünschen, dass wir schneller werden in unseren Entscheidungen. Das Land wird 100 Mio. Euro zur Verfügung stellen zur Unterstützung der Kitas in 2024. Die Diskussion darum war ein langer, ein zu langer Prozess.“ Zudem verspricht er finanzielle Unterstützung für die Verbesserung der Situation den KiTas.

„In das Paket für Alltagshelfende in den KiTas wurden 140 Mio. Euro eingestellt. Es gibt dafür eine Festförderung von 1.500 Euro pro Hilfsperson, wobei der Eigenanteil der Träger entfallen soll.“ Diese Mittel
sind hilfreich, aber beim Weitem nicht auskömmlich – in NRW werden 400 Mio. Euro benötigt um die KiTas wie bisher weiter zu betreiben, also das Vierfache der beschlossenen Summe.

Dass auch die Personaldecke nicht länger wird, wenn man kräftig daran zieht, lässt sich eindrucksvoll am Beispiel der KiTas zeigen: Vorhandene Einrichtungen werden zwar ausgebaut, zusätzliche neu errichtet, um dringend benötigte weitere Betreuungsplätze für Kinder zu schaffen, doch an allen Enden fehlt es an Erziehern. Aufgrund der hohen Beschäftigungsquoten im Kreis Siegen-Wittgenstein ist zusätzliches Personal kaum zu bekommen. „Bei uns kommen viele Probleme zusammen: zu wenig Fachkräfte, fehlende Betreuungsplätze für Kinder, Kollegen, die wegen der ständigen Überlastung kündigen oder in andere Jobs abwandern“, berichtet Jens Hunecke, unterstützt von
etlichen Wortmeldungen aus dem Plenum, in dem Erzieher aus ihrem Alltag berichteten.

Andree Schmidt weiß ebenfalls um die angespannte Situation: „Allein in Siegen haben wir jetzt pro Jahr 200 Kinder mehr in den KiTas – was uns freut, denn aufgrund des demografischen Wandels brauchen wir sie dringend. Aber das stellt uns auch vor zusätzliche Probleme, denn diese Kinder haben wir nicht einkalkuliert.“ Zugleich beschrieb Schmidt ein Defizit im städtischen Haushalt von 20 Mio. Euro – und so ging der Ball zwischen den politischen Vertretern hin und her, blickt man doch allenthalben in leere Kassen. Ein konstruktiver Vorschlag von Andree Schmidt und zugleich Appell an die Lokalpolitik: „Wenn die Politik entscheiden würde, die KiTa-Gebühren nicht abzuschaffen, könnte die Stadt die Einnahmen daraus an die Träger geben.“

Die Diskussion führte, wie zu erwarten war, an dem Abend nicht zu einer abschließenden Lösung. Sie bildete jedoch einen wichtigen Auftakt für einen Diskurs, der auf kommunaler wie auch auf Landes- und
Bundesebene weitergeführt werden muss. Die deutlichen Forderungen der AG-Wohlfahrt an Bund und Länder lauten: ein nachhaltiges auskömmliches Finanzierungskonzept und eine klare Priorisierung und Positionierung der Politik zu den Sozialen Diensten und deren unerlässlicher gesellschaftlicher Bedeutung. Jens Hunecke: „Unsere soziale Infrastruktur, unverzichtbares Rückgrat unserer Gemeinschaft, steht vor einer ernsthaften Bedrohung. Diese betrifft KiTas, den Offenen Ganztag, Angebote für Menschen mit Behinderung, Beratungsstellen, Pflegeheime und Migrationsdienste. Am Ende sind es die Menschen vor Ort, die Kommunen und deren Bürgerinnen und Bürger – Sie, wir alle – die mit den massiven Auswirkungen fehlender Betreuungs- und Hilfsangebote werden umgehen müssen.“

Mit Sorge sieht die Arbeitsgemeinschaft der Wohlfahrt die aktuelle Diskussion um den Kreishaushalt 2024. Sollte der Kreishaushalt erst im Februar 24 verabschiedet werden, dann sehen die Verbände gerade kleine und spezialisierte Angebote in ihrer Existenz gefährdet und zwar schon sehr kurzfristig. Neben der Sorge, dass unbeabsichtigt soziale Infrastruktur irreparabel zerstört wird ist, dass mit der Verschiebung der Haushaltsentscheidung mit der Existenz von Menschen gespielt wird.


v.l.: Jens Kamieth, Jens Hunecke, Ralf Pohlmann, Andree Schmidt, Heike Deimel, Martin Horchler und Tom Schirmer

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