(wS/red) Netphen 14.08.2019 | Kraftakt am Fuße der Eiger Nordwand
Rüdiger Stahl vom ASC Weißbachtal bewältigt Eiger Ultra Trail/Schweiz über 101 Kilometer und 6700 Höhenmeter
Grindelwald/Netphen. Läufer haben in ihrem Leben viele Träume. Den ersten Volkslauf über 10 Kilometer, vielleicht sogar einen Marathon mit der Distanz von 42,195 Kilometer. Wem diese Herausforderung immer noch nicht reicht, der versucht sich an den magischen 100 Kilometern von Biel in der Schweiz. Doch auch diese Distanz ist im Vergleich zu dem, was die Teilnehmer beim Eiger Ultra Trail in der Schweiz erwartet, ein „Kindergeburtstag“. Dieser Trail-Lauf bringt selbst erfahrene Ultraläufer an ihre Grenzen und schon manch ein Profi hat auf der Strecke aufgeben müssen. Allein die Streckendaten sind selbst für Ausdauersport-Junkies furchteinflößend: Das Rennen mit Start und Ziel in Grindelwald geht über die Distanz von 101 Kilometer und über insgesamt 6700 Höhenmeter.
Damit zählt der Ultra-Trail zu den härtesten Rennen in Europa und übertrifft sogar noch den wohl härtesten Trail-Run Deutschlands, den Zugspitz-Ultratrail mit einer Länge von 102 Kilometern, jedoch mit „nur“ 5400 Höhenmetern. Der großen Herausforderung stellte sich in diesem Jahr auch ein Siegerländer: Der 52-jährige Rüdiger Stahl, erst seit drei Jahren Wettkampfläufer im Trikot des Ausdauer Sportclubs (ASC) Weißbachtal und dort Trainer für Halbmarathon- und Marathoneinsteiger, erreichte als einer von nur 432 Finishern überglücklich das Ziel in Grindelwald – 134 Läufer hatten zuvor, aufgrund von Blasen, Zerrungen und Krämpfen oder total entkräftet, das Handtuch geworfen. „Der Lauf war der absolute Hammer. Ein Lauferlebnis, das ich so schnell nicht vergessen werde“, schildert der Hainchener noch immer überwältigt von den Eindrücken den Extremlauf am Fuße der Eiger Nordwand.
Der Mythos Eiger und die Eigner Nordwand fasziniert Bergsteiger seit über 150 Jahren. Auch Läufer aus aller Welt reizt die Landschaft mit Blick auf die imposante Nordwand. Inspiriert vom Mythos Eiger wird seit 2013 der Eiger Ultra Trail gestartet. Mit dem „Genusstrail“ über 16 Kilometer, dem „Nordwand-Trail“ über 35 Kilometer, dem „Panorama-Trail“ über 51 Kilometer und dem „Eiger Ultra-Trail“ über 101 Kilometer haben die Läufer vier Strecken zur Auswahl. In der Königsdisziplin entlang der Etappenorte Grosse Scheidegg, First, Faulhorn, Schynige Platte, Wengen, Männlichen,
Kleine Scheidegg und der Traverse unter der Eiger Nordwand erleben Läufer aus vielen Nationen ein echtes Spektakel mit einem einmaligen Bergambiente. Zwei Mal musste der Lauf aufgrund des schlechten Wetters in den Alpen schon abgesagt werden. Die Startplätze für die Quälerei über 6700 Höhenmeter sind rar und äußerst begehrt. In diesem Jahr waren alle 600 Tickets in nur drei Minuten (!) vergeben, Nachmeldungen sind nicht möglich.
Bei der offiziellen Vergabe war Rüdiger Stahl gar nicht zum Zuge gekommen, denn er hatte den Lauf in den Alpen ursprünglich gar nicht auf der Rechnung. „Ich wollte eigentlich beim 10×11 Kilometer Kölnpfad-Lauf über die Distanz von 110 flachen Kilometern starten, doch dann kam alles ganz anders“, erzählt der begeisterte Läufer. Seine Startberechtigung hat er dann auf besonders kuriose Weise ergattert. Auf Facebook hatte ein Australier seinen Startplatz angeboten, weil er beim Lauf durch die Alpen verhindert war. „Ich will deinen Startplatz übernehmen, habe ich ihn angeschrieben und dann ging alles ganz schnell mit der Ummeldung und ich hatte mein Ticket. Ich habe 220 Euro für den Startplatz überwiesen, danach musste ich nur noch meiner Frau und meiner Tochter versprechen, dass ich wieder heil nach Hause zurückkomme…“
Dass Rüdiger Stahl, im Hauptberuf Steuerberater und Mitinhaber der Steuermanufaktur in Netphen-Deuz und Wilnsdorf, als purer „Freizeitläufer“ über die kräftezehrende Strecke überhaupt das Ziel erreichen würde, war keinesfalls so sicher. Erst spät ist er zum Laufsport gekommen, ist bei Ultra-Läufen noch recht unerfahren, ein echter „Rookie“ eben. 20 Jahre lang lediglich als Gelegenheitsjogger unterwegs, hat ihn erst vor drei Jahren, mit 49, beim Einsteigerkurs des ASC Weißbachtal und der Vorbereitung auf den 13. Siegerländer AOK-Firmenlauf 2016 die Begeisterung für den Laufsport gepackt. Es folgten Trainingskilometer um Trainingskilometer, die Teilnahme an Ausdauer-Cup-Läufen, gut ein Dutzend Marathonläufe und auch die Zielankunft beim Plettenberger P-Weg-Lauf 2018 über 73 Kilometer mit 2000 Höhenmetern. „Zuletzt habe ich in der Woche rund 100 Kilometer gelaufen“, so Stahl – doch würden Laufstrecken über die Siegerländer Hügel und die Haincher Höhe als Vorbereitung für den Höllentrip am Fuße der Eiger Nordwand ausreichen?
„Warum nicht? Ich fühlte mich gut und habe mich auf den Lauf gefreut. Natürlich ist ein so langer Lauf immer eine körperliche Herausforderung“, so der Netphener. Zur Bewältigung der 101 bergigen Kilometer innerhalb des Zeitlimits von 26 Stunden reichen jedoch gute Vorsätze, Running-Stöcke und ein paar Laufschuhe allein natürlich nicht aus. So lassen sich die Veranstalter die Fitness der Läufer schriftlich bestätigen und auch das Wettkampf-Equipment ist penibel vorgeschrieben. Rüdiger Stahl: „Wir mussten verpflichtend zwei Stirnlampen für die Streckenabschnitte in der Nacht, Mütze, Rettungsdecke, ein Handy mit Notfallnummer und auch ein Erste Hilfe-Notfall-Paket im Rucksack haben.“
Nach der obligatorischen Pasta-Party am Vorabend des Laufs, einer erholsamen aber kurzen Nacht im Naturfreundehaus Grindelwald, einem Läuferfrühstück mit original Schweizer Birchermüesli und den letzten Tipps vom laufbegeisterten Hotelier stand Rüdiger Stahl dann am Samstagmorgen um 4 Uhr erwartungsvoll zusammen mit 565 weiteren Wagemutigen an der Startlinie. Nach dem Startschuss in Grindelwald auf 1000 Meter Höhe ging es auf schmalen Wanderwegen durch die Nacht die ersten 12 Kilometer ständig bergauf. Ein Erlebnis war dann der Sonnenaufgang auf der Passhöhe der kleinen Scheidegg auf 2000 Meter Höhe. Weiter ging’s dann hinauf zum höchsten Punkt der Strecke, dem Faulhorn auf 2.680 Metern Höhe – doch an Faulenzen, oder gar Rumbummeln durften die Läuferinnen und Läufer nicht mal denken. Sie hatten die Laufzeit im Nacken, die wie ein Besenwagen alle Zu-Langsam-Läufer aus dem Rennen aussortierte. An 13 Etappenpunkten mussten die Teilnehmer die Limitzeiten einhalten – wer zu spät dran war, der wurde aus der Wertung genommen. „Auf der Strecke lief es dann erstaunlich gut. Ich konnte immer wieder mit anderen zusammenlaufen. Ich hatte so gut wie keine Probleme.“ Alle Teilnehmer waren mit einem Tracker ausgestattet, der die Laufdaten via GPS übermittelte, so konnten selbst die Daheimgebliebenen das Rennen jederzeit in Echtzeit verfolgen.
Auf langen Distanzen kommt es vor allem darauf an, den Flüssigkeitsverlust wieder auszugleichen und die Kohlenhydratspeicher wieder aufzufüllen. „Ich habe während des Laufs achteinhalb Liter Wasser in mich hineingeschüttet und sicherheitshalber auch ein paar Salztabletten genommen. Aber man kann ja nicht alles zum Essen mitschleppen, deshalb gibt es entlang der Strecke viele Verpflegungsstände. Besonders habe ich mich über den Stopp bei Kilometer 55 gefreut, da gab es dann Pasta mit Tomatensauce, einfach wunderbar!“ Kilometer für Kilometer führte die Strecke weiter, die Ermüdung stieg, die Kräfte ließen nach, doch Rüdiger Stahl kam doch nicht an seine körperlichen Grenzen. „Die enorme Streckenlänge, die Höhenmeter, die Dunkelheit in der Nacht, der Temperaturunterschied von 15 Grad bis 27 Grad in der Mittagssonne, all das haben mir nichts ausgemacht. Von der Kraft her hätte ich am Ende sogar noch 20 Kilometer weiterlaufen können. Aber über die Bergabpassagen, mit Steintreppen, Geröll und losen Steinen habe ich echt geflucht. Das hat Nerven und Kraft gekostet.“ An einer Passage ist er dann auch gestürzt und hat sich dabei die Hand, das Bein sowie den Kopf aufgeschürft. „Nichts Dramatisches“, wiegelt er ab, denn am Weiterlaufen hat ihn das nicht gehindert.
Zwei Stunden nach Mitternacht, nach 22 Stunden und 9 Minuten, erreichte der 52-jährige Läufer des ASC Weißbachtal auf Gesamtplatz 302 und als 50. in der Seniorenklasse II (Jahrgang 1960 bis 1969) wieder das Ziel in Grindelwald. Überglücklich ließ er sich die Finisher-Medaille, den Eiger Finisher Stein, der von einem einheimischen Bergführer von Hand gesammelt und präpariert wurde, um den Hals hängen. In diesem Stein, so verspricht es der Veranstalter, lebt der Mythos Eiger und das einmalige Lauferlebnis am Fuße der Nordwand weiter. Auch Rüdiger Stahl aus Hainchen nimmt ein einmaliges Lauferlebnis mit zurück ins Siegerland. „Was zählt ist das Erlebnis“, sagte bereits Anderl Heckmair, Bergführer und Erstbegeher der Eiger Nordwand im 1938.
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