(wS/drk) Siegen 15.08.2023 | Das Kind hat oft „keinen Hunger“, studiert die Nährwertangaben ganz genau oder möchte auf keinen Fall mehr kurze Sachen tragen? Alles Punkte, die Friederike Schneider-Hanses, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin an der DRK-Kinderklinik Siegen, bekannt vorkommen. Als Therapeutische Fachleitung der psychosomatischen Station hat sie in den vergangenen Jahren immer mehr mit Magersucht, Ess-Brech-Sucht und ähnlichen Krankheiten zu tun. Fast ausschließlich davon betroffen sind junge Mädchen – teilweise gerade einmal zehn oder elf Jahre alt.
„Von einer Ess-Störung spricht man, wenn das Essverhalten und das Körperbild eines Menschen gestört sind“, meint Friederike Schneider-Hanses. „Die Gedanken kreisen zunehmend um Nahrung, Kalorienwerte und das eigene Aussehen. Die Art und Menge der Mahlzeiten verändert sich stark, das Gewicht verringert sich. Bei der Ess-Brech-Sucht kommt es zu häufigen Fress-Attacken, die mit anschließendem Erbrechen einhergehen.“ Zusätzlich wird häufig viel Sport getrieben, still sitzen ist für viele Patientinnen und Patienten kaum möglich. Alles Punkte, die die Eltern beim Nachwuchs durchaus ernst nehmen sollten. Die Auslöser sind häufig psychische Probleme. Deshalb muss neben den Symptomen gleichzeitig auch die Ursache behandelt werden, um eine Ess-Störung zu heilen. „Mit Ess-Störungen gehen meist körperliche und seelische Schäden einher“, weiß die Psychotherapeutin aus der täglichen Praxis. „Die Krankheitsbilder können dabei sehr ernste Konsequenzen haben – in Extremfällen sogar bis hin zum Tod.“
Die sozialen Medien aber auch die Corona-Zeit haben das Thema befeuert. Virtuelle Challenges unter den Jugendlichen – wer beispielsweise am meisten innerhalb eines bestimmten Zeitraums abnimmt – tragen das Übrige dazu bei. Die Lücke zwischen Realität und Wirklichkeit klafft immer weiter auseinander. „Die Mädchen haben meistens ein total falsches Selbstbild. Sie fühlen sich zu dick und hässlich, haben den Wunsch abzunehmen. Viele haben Schwierigkeiten, mit negativen Emotionen angemessen umzugehen und greifen zum Abnehmen, Essen oder auch Erbrechen um sich besser zu fühlen. Insbesondere bei der Magersucht spielt der Wunsch nach Kontrolle und ein ausgeprägter Leistungsgedanke eine große Rolle“, schildert Friederike Schneider-Hanses die gängige Praxis. „Das Abnehmen löst Glückshormone aus. Die Mädchen haben das Gefühl, dass sie etwas leisten und erfolgreich sind. Damit beginnt die Abwärtsspirale. Es wird immer weiter abgenommen, um dieses Gefühl aufrechtzuerhalten.“ Durch die verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers können die Patienten oft selbst nicht erkennen, dass sie zu dünn sind, sondern erleben sich weiterhin als zu dick. Dies verringert oft die Krankheitseinsicht und auch die Behandlungsmotivation.
Ist das Untergewicht erst einmal da, lassen die Folgen nicht lange auf sich warten. Trockene Haut, zu niedriger Blutdruck und Puls aber auch Folgeschäden bei den Organen oder dem Knochenbau sind die Konsequenz. Auch der Hormonhaushalt verändert sich, was sich wiederum beim Kind negativ auswirkt. „Eltern sollten ihren Zögling genau im Blick behalten und mit Fingerspitzengefühl vorgehen“, warnt die Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin. Was bedrückt oder belastet Dich? Wie können wir Dir helfen? Alles Fragen, die gestellt werden müssen. „Im Ernstfall sollten die Eltern mit ihrem Nachwuchs zügig den Kinderarzt aufsuchen – auch wenn es gegen den Willen des Kindes ist. Er kann wiegen, die Größe messen und abklären, ob wirklich Grund zur Sorge besteht.“
Wichtig in dem Zusammenhang zu wissen: Ein Body-Mass-Index, kurz BMI, unter 17,5 gilt offiziell als Untergewicht ab dem 16. Lebensjahr. Die BMI-Altersperzentilen können in jüngeren Jahren einen Hinweis auf die Gewichtsentwicklung und das Vorliegen eines Untergewichts geben. Ist Gefahr im Verzug kennt der Kinderarzt die entsprechenden Beratungs- und Anlaufstellen für eine effiziente Hilfe. Einige Mädchen und Jungen davon kommen dann auch in der Kinderklinik unter. Vor Ort sind 14 Tagesklinische Plätze vorhanden. Die Behandlungsdauer richtet sich nach dem individuellen Verlauf. Wichtig ist dabei zu allererst einmal die familiäre Entlastung aber auch die Gewichtszunahme. Im Verlauf werden zum Beispiel Themen wie Selbstwert, Körperbild, Umgang mit Gefühlen und auch die Auseinandersetzung mit ess- und gewichtsbezogenen Gedanken thematisiert. Auch der Einbezug der Familie in den therapeutischen Prozess spielt eine wesentliche Rolle. Familiäre Interaktionen werden beleuchtet und eine gesunde Entwicklung des Jugendlichen im Familiensystem forciert. „Im Anschluss an den Klinikaufenthalt sollte auf eine gute ambulante Betreuung wert gelegt werden, damit keine Therapielücke entsteht“, meint Friederike Schneider-Hanses. „Schließlich gilt: Die Krankheit birgt die große Gefahr der Wiederholung. Viele Patienten brauchen mehrere Behandlungen, bevor sie mit dem Thema Ess-Störungen abschließen können – leider.“