Warum Leserinnen und Leser den Figuren ihrer Lieblingsbücher folgen und in Wanderstiefeln auf Krimi-Touren gehen, hat Raphaela Knipp im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Uni Siegen herausgefunden.
(wS/red) Siegen 18.04.2017 | Sie tragen Trekkingschuhe und Outdoor-Jacken und stehen an einem grauen Tag auf einem Acker in der Eifel. Drei Teilnehmer halten Texte in der Hand, die sie der Wandergruppe vortragen. Es handelt sich um Passagen aus den Eifel-Krimis von Jaques Berndorf. Der Acker ist einer der Schauplätze, an denen der Protagonist der Krimis, Reporter Siggi Baumeister, ermittelt. Wenn LeserInnen den Figuren aus ihren Lieblingsbüchern folgen, spricht man von Literaturtourismus. Mit diesem Phänomen hat sich Dr. Raphaela Knipp im Rahmen ihrer Doktorarbeit am DFG-Graduiertenkolleg „Locating Media“ an der Universität Siegen beschäftigt.
„Touren wie die Krimi-Wanderungen in der Eifel sind extrem beliebt. Insgesamt ist Literaturtourismus ein Trend, der in den nächsten Jahren noch zunehmen wird“, sagt Knipp. Unter dem Titel „Begehbare Literatur. Eine literatur- und kulturwissenschaftliche Studie zum Literaturtourismus“ ist ihre Arbeit gerade im Universitätsverlag Winter Heidelberg („Reihe Siegen“) veröffentlicht worden.
Doch nicht nur in der Eifel wandeln Leserinnen und Leser auf den Spuren ihrer Roman-Helden. In den Straßen Dublins folgen sie der Fährte von Leopold Bloom aus James Joyce` Klassiker „Ulysses“. In Lübeck ist das Buddenbrookhaus eine beliebte Anlaufstelle für Literaturfans, das Zuhause der fiktiven Buddenbrook-Familie aus Thomas Manns gleichnamigem Roman. Auch diese Orte der „begehbaren Literatur“ hat Raphaela Knipp für ihre Doktorarbeit immer wieder besucht, an Führungen teilgenommen und vor Ort mit Leserinnen und Lesern gesprochen. „Es hat mich schon immer interessiert, wie Leser mit Literatur umgehen, wie sie sich einen literarischen Text aneignen“, sagt Knipp.
Was hat es also für Effekte, wenn Literaturreisende Roman-Schauplätze besuchen? „Das hängt stark davon ab, wie die jeweiligen Orte in der Literatur geschildert werden – und wie es dort tatsächlich aussieht“, erklärt Knipp. Bei Joyce werden beispielsweise zahlreiche Gebäude oder Straßen zwar konkret benannt, aber kaum näher beschrieben. Die Literaturreisenden hätten daher keine festen Vorstellungen im Kopf und seien offen für das, was sie vor Ort erwartet. Andere Erfahrungen hat Knipp im Buddenbrookhaus gemacht, das im Roman sehr detailliert beschrieben wird. „Viele sind regelrecht enttäuscht, wenn sie das Haus betreten“, sagt die Literatur- und Medienwissenschaftlerin. „Denn hinter der Original-Fassade verbirgt sich heute ein modernes Gebäude, der Rest wurde im Krieg zerstört.“
Den Hauptfiguren eines Romans nahe sein, das Gelesene auch körperlich nacherleben. Das ist ein wichtiges Motiv von Literaturreisenden, hat Knipp durch ihre Befragungen herausgefunden. Die Trips haben also eine starke emotionale Komponente und daher immer auch ein gewisses Enttäuschungspotential. Es gehe den Literaturfans aber nicht nur um den Abgleich des Gelesenen mit der Realität, betont Raphaela Knipp: „Auch das Gemeinschaftserlebnis ist wichtig. Mich direkt am Schauplatz eines Romans mit anderen Lesern auszutauschen ist etwas Anderes, als allein mit meinem Buch im stillen Kämmerlein zu sitzen.“ Bei den literarischen Stadtrundgängen oder Wanderungen finde daher regelmäßig eine Art Vergemeinschaftung unter den TeilnehmerInnen statt.
Obwohl die Gruppen insgesamt eher heterogen sind, hat Knipp doch einige typische Merkmale von Literaturtouristen festgemacht: Sie sind vorwiegend weiblich, zwischen 40 und 60 Jahren alt und bringen meist einen gewissen Bildungshintergrund mit. „Es sind aber immer wieder auch Menschen dabei, die den zugrundeliegenden Roman gar nicht gelesen haben“, stellt die Nachwuchswissenschaftlerin fest. „Vor allem, wenn es sich um einen anspruchsvollen Text wie Joyce` ‚Ulysses‘ handelt.“ Diese Nichtleser wollten trotzdem Teil der Kultur sein und sich mit Literatur auseinandersetzen. Der Literaturtourismus biete daher große Chancen für eine neue, andere Art der Literaturvermittlung, ist Knipp überzeugt: „Wer einmal vor Ort war und über die Besichtigung der Schauplätze einen Zugang gefunden hat, greift anschließend vielleicht doch noch zum Roman, um das Erlebte nachzulesen.“
Auch aus wirtschaftlicher Perspektive ist der Literaturtourismus ein interessantes Phänomen. „Ländliche Regionen wie die Eifel gewinnen so ganz neue Möglichkeiten der Vermarktung“, erklärt Knipp. Vielerorts würden sogar fiktive Roman-Welten nachgebaut und damit in die Realität geholt. So ist im Buddenbrookhaus beispielsweise ein Bereich exakt so eingerichtet, wie in Manns berühmtem Gesellschaftsroman beschrieben. „Klassische Autoren- und Dichterhäuser wie das Goethehaus in Frankfurt zu besichtigen, ist nichts Neues. Sie werden schon seit dem 19. Jahrhundert touristisch vermarktet“, sagt Knipp. „Durch den Nachbau fiktiver Welten ergeben sich weitere, literatur-museale Konzepte. Dieser Ansatz ist relativ neu. Und er bietet ein enormes Potenzial.“
.
Anzeige/Werbung – Jetzt clever werben bei wirSiegen.de – Infos hier