Geschichte erinnert an Bollywoodfilm: „Ehe oder Elternhaus?“

Veena Sekhon und Prem Singh trafen eine schwere Entscheidung

(wS/red) Neunkirchen 26.07.2017 | Die Geschichte erinnert an einen romantischen Bollywoodfilm: In einem Einkaufszentrum in Delhi treffen Prem Singh und Veena Kaur Sekhon sich zum ersten Mal. Um die hübsche Frau wiederzusehen besuchte Prem, der aus der Nähe der indischen Metropole stammt, regelmäßig die Shopping-Mall. Er hatte Glück, sieht Veena wieder und kommt mit ihr ins Gespräch. Die Beiden tauschten ihre Telefonnummern aus, verabredeten sich und verliebten sich ineinander.

Auf diese oder ähnliche Weise finden Tag für Tag auf der ganzen Welt Menschen zueinander. Doch Prem und Veena stammen aus Indien, und dort spielt die Herkunft für das Zusammensein eine entscheidende Rolle: Schnell stellte sich nämlich heraus, dass die beiden Inder unterschiedlichen Kasten angehörten. Veena ist Tochter eines Bauern und gesellschaftlich höhergestellt, als der Mechaniker Prem.

Eine große Liebe: Mit der Entscheidung für Prem hat sich Veena gegen ihre Familie entschieden. Den Beiden blieb nur die Flucht aus Indien. Ihre Zukunft ist immer noch ungewiss.

Von vorneherein ist klar, dass Veenas Familie die Verbindung nicht unterstützt. Dies hat nicht zuletzt traditionelle Gründe: Der Ehepartner der Tochter wird in Indien meist noch immer von deren Familie ausgesucht. Etwa 90 Prozent der Ehen sind arrangiert. Insbesondere auf dem Land – Veenas Familie aus der Nähe von Bundi im indischen Bundesstaat Rajasthan – stellt die Verbindung zweier Menschen vielmehr ein Bündnis zwischen Sippen als eine Herzensangelegenheit dar. Wer sich jedoch verliebt und dann auch noch „in den falschen Menschen“, der muss mit Konsequenzen bis hin zum Ehrenmord rechnen.

Veena ist eine gebildete Frau. Sie hat Englisch und Geschichte auf Lehramt studiert, hängte nach dem Master noch einen Aufbaustudiengang an. In Prem fand sie einen Menschen, der sie achtet, respektiert und liebt. Zu leben, wie ihre Cousine, die von ihrem Mann unterdrückt wird, kam für Veena nie infrage.

Eigentlich ist genau das der Stoff, aus dem die märchenhaften Romanzen Bollywoods geschneidert sind. Während die Protagonisten im Film solche Hürden erfolgreich umschiffen und schließlich, begleitet von Gesang und Tanz, auf das Happy End zusteuern, sieht die Realität jedoch völlig anders aus.

Gegen alle Konventionen heiraten Veena und Prem im Juli 2013. Die Zeremonie in einem indischen Tempel ist nüchtern im Vergleich zu den pompösen und farbenfrohen Hochzeiten, die üblicherweise von den Eltern der Braut finanziert werden. „Nur unsere engsten Freunde waren dabei“, erinnert sich Prem. Kurz nach der Hochzeit wird der damals 41-Jährige vom Bruder seiner Frau aufgesucht, bedroht und geschlagen. Die Drohung Prem umzubringen, das wissen beide, ist keine leere Drohung.

Das Paar hat Angst. „Unterzutauchen wäre eine Möglichkeit gewesen, aber früher oder später hätten sie uns gefunden“, mutmaßt Prem, der um den Einfluss seiner Schwiegereltern weiß. Freunde raten ihnen, das Land zu verlassen. Und genau das macht das Paar aus Angst vor einer Vergeltungstat bereits zwei Wochen nach der Trauung: Es flüchtet nach Deutschland und landet schließlich in Neunkirchen. Die Verständigung vor Ort ist ob mangelnder Deutschkenntnisse schwieriger als vermutet. Untergebracht werden sie in der Flüchtlingsunterkunft „Alter Weg“. Veena, als einzige Frau unter vielen Männern, leidet, wird krank.

Die Beiden vermissen ihre Familien, müssen sich an die neue Kultur gewöhnen. So global wie sie dachten, ist die Welt nicht. Doch für Veena und Prem als Paar gibt es keine Alternative: In Indien warten Veenas Brüder und somit der Tod für Prem.

„Wir mussten etwas tun, damit uns nicht die Decke auf den Kopf fällt“, erklärt Prem. Veena besucht einen B1-Deutsch-Kurs und schließt ihn mit Zertifikat ab. Prem beschließt indes Frank Mayenschein zu helfen, der u. a. für die Flüchtlingsunterkünfte in der Gemeinde zuständig ist. Gemeinsam richten Mayenschein und der freundliche Inder neue Unterkünfte in Neunkirchen her, holen Möbel aus Haushaltsauflösungen, führen kleinere Reparaturen durch und bringen die neu angekommenen Flüchtlinge in ihr neues Zuhause.

Auch Prem und Veena ziehen um: Zunächst in die Flüchtlingsunterkunft nach Altenseelbach, später stellt ihnen das Ehepaar Willwacher seine Einliegerwohnung zur Verfügung.

Veena hat inzwischen begonnen, in der Hausaufgaben- und Nachmittagsbetreuung der OGS Neunkirchen auszuhelfen. Das Team schätzt ihre ruhige Art, ihre Hilfsbereitschaft und ihre große Wertschätzung anderen Menschen gegenüber. „Veena ist sehr wertvoll für uns“, urteilt die Leiterin der OGS Margarete Weidt, „sie stellt sich in den Dienst der Kinder und ist eine wirkliche Bereicherung“.

Veena arbeitet gern in der OGS-Betreuung. Die Inderin mag Jazz, liest viel und informiert sich dank eines Tabletts über „Gott und die Welt“: „Ich bin Lehrerin, wenn mich jemand etwas fragt, muss ich die Antwort wissen“.

Prem wiederum arbeitet seit fast zwei Jahren im Rahmen gemeinnütziger Arbeit in der Kopernikusschule und erledigt dort Hausmeistertätigkeiten. Auch er wird von seinen Kollegen geschätzt und gilt als ausgesprochen beliebt. Schulleiter Paul-Gerhard Jung lobt Zuverlässigkeit, Einsatzwillen und Kompetenz des 45-jährigen Inders. „Trotz anfänglicher Sprachprobleme hatte Prem schnell den Durchblick. Er ist ein Top-Mann“, so Jung.

Prem engagiert sich an der Kopernikusschule. Wie seine Frau lebt auch er täglich mit der Angst einen Abschiebungsbescheid zu erhalten. Ihr Asylantrag liegt derzeit beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Das Paar ist aufgeschlossen dem Neuen gegenüber. In Indien hat Okra zu ihren beliebtesten Gemüsesorten gezählt, in Deutschland haben die Beiden an Spargel Gefallen gefunden „und abends gibt es jetzt bei uns auch schon mal ein Butterbrot“, lacht Veena. Gern kaufen sie in indischen Geschäften, schauen indisches Fernsehen und treffen sich mit Landsleuten, die in Deutschland leben. Aber auch vor Ort sind sie inzwischen fest verankert: Das Paar, das der liberalen Sikh-Religion angehört, besucht in Neunkirchen gelegentlich die Baptistengemeinde und hat auch darüber hinaus soziale Kontakte und Freundschaften geknüpft. „Wir haben sehr viel Liebe und Rückhalt aus der Bevölkerung erfahren. Natürlich möchten wir gern in Neunkirchen bleiben“, erzählt Veena. Wie stehen also die Chancen auf ein Happy End in klassischer Bollywood-Manier?

Veena und Prem sprechen inzwischen gut Deutsch und sind – dank ihres großen Engagements in der Gemeinde – hervorragend integriert. Sie sind aber immer noch Flüchtlinge. Regelmäßig muss Prem die Aufenthaltserlaubnis verlängern: ein Behördengang, der immer mit Bauchschmerzen verbunden ist. Die Angst vor einer Abschiebung ist allgegenwärtig. Indien ist kein Auswanderungsland. Das weiß das Paar: „In Indien herrscht kein Krieg. Und auch Arbeit gibt es dort genug.“ Dennoch: Durch die Hochzeit mit einer kastenhöheren Frau gilt Prem in seiner Heimat als Sünder. Er muss um sein Leben fürchten.

Die Situation ist schwierig: Seit fast vier Jahren haben die beiden ihre Familien weder gesehen noch gesprochen. Über ihre Freunde in Indien wissen sie, dass es Prems Eltern gesundheitlich schlecht geht. Den Verwandten in Indien ihren Aufenthaltsort preiszugeben, möchten sie aus Angst jedoch nicht. Die Zerrissenheit der beiden ist zu spüren. „Wir fühlen uns hier in Neunkirchen, besonders in Altenseelbach sehr wohl, die Menschen hier sind uns mit sehr viel Liebe begegnet, zugleich vermissen wir unsere Freunde und Angehörigen.“ Sie möchten hier, sie möchten zusammen bleiben, denn: Seine Liebe leben, das kann das Paar nur hier.

Die OGS hat einen Fragebogen für alle Helferinnen und Helfer erstellt. Von der Lieblingsspeise bis zum Lieblingsfilm wird nach vielem gefragt. Unter die Frage „Wen willst Du unbedingt mal treffen?“ hat Veena „Meine Eltern“ geschrieben.

„Das Leben hat immer eine gute und eine schlechte Seite,“ sind sich die Beiden sicher. Es bleibt abzuwarten, welche Seite es als nächstes zeigt.

Fotos: Gemeinde Neunkirchen
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