Zwischen Temporausch und Winterblues

Speed-Skydiving in Breitscheid: Die Westerwälder Fallschirmsportler treten aufs Gaspedal

Ein Gastbeitrag von Jürgen Heimann

(wS/jh) Breitscheid 30.11.2017 | Ganz so weit, sich in einen kleidsamen Wingsuit-Anzug gehüllt von einem Berggipfel aus in die Tiefe zu stürzen, um in Folge etwas weiter unten zielgenau die offene Luke eines (natürlich rein zufällig) vorbeifliegenden Flugzeugs zu treffen und im Inneren desselbigen Platz zu nehmen, sind die Breitscheider Skydiver noch nicht. Zumal es in der näheren (und weiteren) Umgebung auch an entsprechenden Erhebungen mangelt. Die Fuchskaute bei Willingen bringt es gerade mal auf schlappe 657,3 Meter. Das Jungfraujoch in den Schweizer Alpen hingegen ist da mit einer Höhe von 4158,2 Metern schon wesentlich besser aufgestellt. Das war der Ausgangspunkt jener weltweit für Aufsehen sorgenden Kamikazeaktion, die zwei verrückte französische Base-Jumper unlängst vollführt und unbeschadet überstanden hatten. Wer’s nicht glaubt, der Videobeweis findet sich hier. Doch auch ohne derart verwegene, abgedrehte und halsbrecherische Aktionen gibt es bei den auf der „Hub“ beheimateten Schirmsportlern genug Rasanz und Nervenkitzel – in vertretbarem Rahmen. Ohne dass die Herrschaften dabei Kopf und Kragen riskieren müssen. Auf der Suche nach neuen Herausforderungen haben sie jetzt eine neue Spielwiese für sich entdeckt: Speed-Skydiving. Weia!

In der Breitscheider Adrenalin-Fabrik stehen die Bänder derzeit still. Die Skydiver haben den Winterblues und zehren, bis die neue Saison startet, von den Erlebnissen der abgelaufenen Spielzeit. Seit Inbetriebnahme des neuen Absetzflugzeugs, einer modifizierten Cessna „Supervan“, sind alle Lärmbeschwerden aus der Nachbarschaft verstummt. (Foto: Skydive Westerwald)

Bei dieser Disziplin erreichen die himmlischen Formel-1-Piloten im freien Fall Geschwindigkeiten von 500 Sachen und mehr. Der aktuelle Weltrekord liegt sogar bei 601,26 km/h. Die Akteure schießen raketengleich durch die Luft. Da muss man schon die Ohren anlegen. Und nicht nur die. Ermöglicht werden diese Spitzenwerte u.a. durch eine aerodynamische Körperhaltung: Kopf nach unten („head down“), Arme seitlich an angelegt, damit die Widerstandsfläche gering ist. Und gib‘ ihm! Worauf es dabei ankommt, vermittelt das folgende Video. Zu sehen ist u.a. Moritz Friess vom FSC Remscheid, einer der besten deutschen Speed-Skydiver. Der Knabe hatte im August beim World-Cup im saarländischen Düren für Deutschland die Goldmedaille geholt:

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Bundeskonferenz der „Speedfreaks“

Dieser im Vergleich zum konventionellen Springen etwas dynamischere Form der vertikalen Distanzüberbrückung soll im nächsten Jahr auch in Breitscheid ein besonderer Event gewidmet werden. Dazu erwartet Skydive Westerwald (SDWW) Speedfreaks aus allen Teilen des Bundesgebiets, die sich hier zum freundschaftlichen Kräftemessen ihre Ranzerl auf den Rücken schnallen. Die Absprunghöhe beträgt dabei 4.000 Meter, der Messbereich beginnt bei 2.700 Metern über Grund und erstreckt sich über tausend Höhenmeter. Zwei am Körper der Springer befestigte elektronische Messgeräte zeichnen die Werte unabhängig voneinander auf.

Deutsche Meisterschaft der „Kittelflieger“

In der Breitscheider Adrenalin-Fabrik sind neben diesen Tempomaten ja auch die „Vogelmenschen“ auf dem Vormarsch. Immer mehr schlüpfen da aus dem Ei und werden flügge. Das anspruchsvolle „Wingsuit-Fliegen“ findet, weil von ganz besonderem Reiz, auch hier ständig neue Anhänger. In ihren speziell designten Anzügen ähneln diese Luftsportler Fledermäusen. Im Sommer nächsten Jahres werden in Breitscheid die Deutschen „Birdman“-Meisterschaften ausgetragen. Sie gelten als Qualifikation für die WM.

Vogelmenschen im Anflug. In ihren Spezialanzügen sehen die „Wingsuiter“ aus wie Fledermäuse. Diese Disziplin gewinnt auf der „Hub“ immer mehr Freunde. Nächstes Jahr sollen hier die Deutschen Meisterschaften der „Kittelflieger“ ausgetragen werden. (Foto: Skydive Westerwald)

Breitscheid wird zur größten „Dropzone“ Hessens

Wie es aussieht, ist das Ziel von „SDWW“, am Flugplatz ein großes und modernes Sprungzentrum zu errichten, in greifbare Nähe gerückt. Das hilft ihnen etwas über den derzeit grassierenden „Winterblues“ hinweg. Der kommunale Bauausschuss hat dem am 11. Dezember tagenden Gemeindeparlament in seiner jüngsten Sitzung empfohlen, den entsprechend geänderten Bebauungsplan zu beschließen. Im Falle der Zustimmung rechnen die Sportspringer damit, im Laufe des nächsten Sommers endlich loslegen zu können. Mit Fertigstellung würde die hiesige „Dropzone“ deutlich aufgewertet und zu einer der größten in Hessen und darüber hinaus. Neben Schulungs-, Lager und Sozialräumlichkeiten wird das neue „Hauptquartier“ auch über einen Flugzeughangar verfügen, damit der vereinseigene 900-PS-Turbinenjäger nicht mehr auf dem benachbarten Siegerlandflughafen geparkt werden muss.
Apropos Schulung: Noch nie war die Zahl derer, die in Breitscheid das Fallschirmspringen erlernen wollten, so groß wie derzeit. Ausbildungsleiter Eric Postlack kann nicht klagen. Sein „himmlisches Klassenzimmer“ ist derzeit voll belegt.

Unterrichtsbesuch im „himmlischen Klassenzimmer“. Noch nie war die Zahl der „Azubis“ in (und über) Breitscheid so hoch. Dabei setzt die Schulleitung auf die AFF-Methode. Bedeutet „Accelerated Freefall“, was sich mit „Beschleunigte Freifallausbildung“ übersetzen lässt. Zwei Sprunglehrer halten während des freien Falls immer Kontakt mit ihrem Schützling und korrigieren dessen Körperhaltung. (Foto: Skydive Westerwald)

Die vergangene Saison war allerdings durchwachsen. Mal von den Erfolgen bei den Deutschen Meisterschaften in Mecklenburg abgesehen. Dort hatten die Mittelhessen mit gleich vier Medaillen gehörig abgeräumt. An vielen Wochenenden machte das Wetter den Akteuren auf ihrer Homebase jedoch einen Strich durch die Rechnung und ließ sie alt aussehen. Höhere Gewalt. Dennoch konnte das Vorjahresergebnis an Absprüngen knapp gehalten werden – bei einer um 15 Prozent reduzierten Zahl an Starts und Landungen der vereinseigenen Absetzmaschine.

Fliegende Flüstertüte lässt Lärmbeschwerden verstummen

Das ist der Tatsache geschuldet, dass dieser 2015 aus Tansania eingeflogene Leisetreter, eine Cessna 208 „Supervan“, doppelt so viel an menschlicher Fracht als ihre Vorgängerin fasst. 20 Passagiere finden in ihrem Bauch Platz, sodass sich mit weniger „Loads“ entsprechend mehr Personal an den Himmel bringen lässt. Lärmbeschwerden der Flugplatzanwohner gehören seit Indienststellung der blau-weiß-lackierten „Foxtrott-Sierra-Whisky-Whisky“ der Vergangenheit an. Immer mehr Sprungvereine in Deutschland haben inzwischen ebenfalls auf diese mit einem speziellen 5-Blattt-Propeller ausgestattete Flüstertüte umgerüstet. Ihnen ist eben auch an einer guten Nachbarschaft gelegen.

Parallel zur Landesstrasse 3044 am Rande des Breitscheider Flugplatzes soll Hessens größtes Sprungzentrum entstehen (Pfeil). Die Skydiver hoffen, im nächsten Jahr endlich mit dem Bau beginnen zu kommen. Am 11. Dezember entscheidet das Gemeindeparlament über den Bebauungsplan. (Foto: Michael Wagner)

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