(wS/red) Siegen 13.03.2019 | Ein König geht durch die harte Schule des Lebens
Das Gilgamesch-Epos: Prof. Dr. Thomas Naumann beschäftigt sich in der Mittwochsakademie mit dem ältesten literarischen Werk der Menschheit.
Über 4000 Jahre alt und immer noch aktuell? Der Theologe Prof. Dr. Thomas Naumann beschäftigt sich im Sommersemester der Mittwochsakademie der Universität Siegen mit einem außergewöhnlichen Werk – dem Gilgamesch-Epos, dem wohl ältesten literarischen Werk der Menschheit und der herausragenden Keilschrift-Überlieferung. Gilgamesch, der sagenhafte König von Uruk, gilt als erster König nach der aus mesopotamischer Erinnerung überlieferten Sintflut, der Städte wiederaufbaute. Doch nicht diese Leistung sorgte dafür, dass Gilgamesch im Menschengedächtnis blieb. Sein Heldenepos, dessen Anfänge in die Zeit um 2300 vor Christus zurückreichen, handelt vielmehr von seiner menschlichen Wandlung. Der rücksichtslose junge König, voller ungebändigter Kraft, der sein Gefolge zwang, bei Tag und Nacht bereit zu stehen, um mit ihm Ball zu spielen, und zudem bei Frischvermählten auf dem Recht der ersten Nacht bestand, wird durch Erfahrung von Freundschaft, Abenteuer, Verlust und rastloser Suche nach Unsterblichkeit am Ende ein wohltätiger Herrscher. Vor allem aus diesem Grund war das Gilgamesch-Epos über 1500 Jahre hinweg Schullektüre im alten Mesopotamien. Das Epos geriet in Vergessenheit und wurde erst 1871 vom britischen Forscher George Smith in den Schriftfunden aus der assyrischen Hauptstadt Ninive gefunden. Die Lektüre zeigt: Die Geschichte eines sich im Angesicht seiner Sterblichkeit zum Guten läuternden Menschen hat bis heute seine Aktualität nicht verloren.
„Das Epos ist wie hervorragende literarische Werke natürlich vielseitig deutbar“, so Naumann zu seinem besonderen Thema. „Ich möchte im Rahmen der Veranstaltung mesopotamisches Wissen thematisieren, eine kulturgeschichtliche Perspektive einnehmen, um zu zeigen, welche Problematiken für die Menschen der damaligen Zeit wichtig waren. Mich interessiert auch die Rezeption des Stoffes in Europa.“ Denn die Entdeckung des Gilgamesch-Epos erbrachte den Nachweis, dass die Erzählung von der Sintflut in der Bibel die jüngere Variation eines sehr viel älteren mesopotamischen Stoffes ist. Ende des 19. Jahrhunderts glaubten noch viele, dass die Bibel die „älteste Urkunde der Menschheit“ war. Spätestens jetzt wurde klar: Dem ist nicht so. Dies führte zum so genannten Bibel-Babel-Streit, der besonders in Berlin um 1900 heftig geführt wurde, zumal Kaiser Wilhelm II. ein großer Förderer der Orientarchäologie und Liebhaber der mesopotamischen Kultur war. Ohne diese Unterstützung wären die deutschen Ausgrabungen in Assur und Babylon, deren Schätze heute im Berliner Pergamon-Museum zu bestaunen sind, kaum möglich gewesen.
Heute gibt es keinen Anlass mehr für diesen Streit und die Einsicht, dass die biblische Sintflut-Erzählung ältere Vorbilder aus Mesopotamien nutzt, gehört längst zum biblischen Grundwissen. Wir sehen heute, dass der alte Orient, dem das Alte Testament wie auch das Gilgamesch-Epos entstammen, einen gemeinsamen kulturellen Raum mit vielfältigen Vernetzungen darstellt, den es ohne religiöse Scheuklappen zu studieren gilt, weil er auch hilft, die Eigenart biblischer Texte genauer zu erfassen.
Worum geht es in der Geschichte Gilgameschs: „Es handelt sich um eine Heldendichtung auf einen großen König“, erzählt Naumann, „der eine interessante Entwicklung durchmacht.“ Zuerst werde er als königlicher Kraftprotz einer göttlichen Mutter und eines menschlichen Vaters geschildert, der seinen Launen freien Lauf lässt und die Menschen von Uruk als Despot unter-drückt. Dann findet er einen ebenbürtigen Freund namens Enkidu, mit dem er gefährliche Abenteuer besteht. Der Tod Enkidus stürzt Gilgamesch in einen namenlosen Kummer. Er begehrt gegen die Unabänderlichkeit der Sterblichkeit auf und durchstreift die Steppe bis hin zum Ende der Welt. Als einziger Sterblicher gelangt er ins Land der Unsterblichen. Der weise Utanapischti – der mesopotamische Noah – der von den Göttern aus Versehen zum Unsterblichen gemacht wurde, belehrt Gilgamesch darüber, dass die Menschen sterblich sind, aber gerade deshalb ihre Lebenszeit zum Wohl ihrer Mitmenschen einsetzen können. Umso mehr gilt das für den König. Erst jetzt versteht Gilgamesch seinem Leben Sinn zu verleihen. Geläutert kehrt er in seine Heimatstadt Uruk zurück und regiert fortan, wie ein König regieren sollte. Es geht auch um die Fragen politischer Herrschaft und Machtausübung. Am Ende seines Lebens muss auch Gilgamesch sterben, aber durch das Epos, das seine Geschichte erzählt, ist er unsterblich geworden.
Thomas Naumann möchte gemeinsam mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Mittwochsakademie das Epos lesen und besprechen: „Mich interessiert, wie dieser alte Text auf heutige Leserinnen und Leser wirkt. Das ist auch für meine Forschungsarbeit interessant, weil ich im Augenblick in einem Siegener Forschungsprojekt Männlichkeitskonzepte in der biblischen Literatur untersuche. Es soll unter anderem auch um Genderaspekte in der Gilgamesch-Dichtung gehen. In jedem Fall freue ich mich auf interessante Leseeindrücke und Gespräche.“
Die Mittwochsakademie der Universität Siegen wird am 24. April, ab 10 Uhr in der Aula des Lÿz an der Siegener St.-Johann-Straße eröffnet. Das Rahmenthema der Eröffnungsveranstaltung lautet „Medizin in Stadt und Land“. Die Veranstaltungen der Mittwochsakademie beginnen am 8. Mai in Siegen und Olpe.
Der Veranstaltungsflyer ist einzusehen unter www.uni-siegen.de/wissensstadt