Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Siegen untersuchen in einem Forschungsprojekt, wie Fahrgäste und Verkehrsbetriebe jeweils mit Störungen und Ausfällen umgehen.
(wS/red) Siegen 15.10.2017 | „Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit. Die Regionalbahn nach Siegen wird voraussichtlich zehn Minuten später eintreffen…“. Wer kennt Durchsagen wie diese nicht? Besonders in Stoßzeiten, zu Ferienbeginn oder im Feierabendverkehr scheinen Verspätungen, Betriebsausfälle oder Störungen bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben fast Normalität und Teil des Alltags zu sein. Forscher der Universität Siegen untersuchen die Infrastruktur von Verkehrsbetrieben, um die Hintergründe von Störungen oder Ausfällen sichtbar zu machen. Das Projekt „Normale Betriebsausfälle. Struktur und Wandel von Infrastrukturen im öffentlichen Dienst“ ist Teil des Sonderforschungsbereichs „Medien der Kooperation“. Geleitet wird es von Prof. Dr. Jörg Potthast.
„In der Störung wird das sichtbar, was sonst zumeist unsichtbar bleibt – die Arbeit der Menschen in den Betrieben. In der Störung empfinden wir zunächst einmal eine Enttäuschung unserer Erwartung. Wir erwarten eben, dass die Bahn oder der Bus pünktlich kommt“, erklärt Projekt-Mitarbeiter Dr. Tobias Röhl den Hintergrund des soziologischen Forschungsprojektes. Störungen können viele Ursachen haben, von einfach zu behebenden wie nicht funktionierenden Glühlampen oder Signalanlagen bis zu überraschenden, nicht planbaren Schäden – etwa einem Notarzteinsatz am Gleis oder einem Sturmschaden.
Fahrgäste wünschen schnelle Information
Doch wie gehen Fahrgäste und Verkehrsbetriebe mit solchen Störungen um? Um die Perspektive der Fahrgäste zu ermitteln, haben die Siegener Wissenschaftler Fahrgäste aus verschiedenen sozialen Schichten, Altersstufen und Bildungsständen befragt. Ausgewählt wurden dazu sechs Gruppen mit je vier bis sieben Personen. Dabei stellte sich heraus, dass für die Kunden die Frage der Verantwortung eine zentrale Rolle spielt. „Als Kunde hat man die Vorstellung, dass sich im Falle einer Störung jemand schnell und effektiv darum kümmern und die Situation klären sollte“, sagt Röhl. Die Fahrgäste wünschen sich vor allem eine schnelle Information, im Bestfall mit der Nennung einer plausiblen Ursache. Wenig Verständnis bringen Fahrgäste übrigens für Ausfälle aufgrund eines Wintereinbruchs auf, da solche vorhersehbaren Wetterlagen als nicht „unplanbar“ wahrgenommen werden.
Techniker als „Mädchen für Alles“
Im Rahmen des Forschungsprojektes beleuchten die Wissenschaftler darüber hinaus auch die Perspektive der Verkehrsbetriebe: Wie sind Arbeitsabläufe und Zuständigkeiten dort organisiert? Jeweils über mehrere Wochen hat das Team verschiedene Verkehrsbetriebe im In- und Ausland besucht, darunter kleine und große Unternehmen. Eine Beobachtung: Bei den größeren Verkehrsbetrieben gibt es professionelle Störungsexperten, die rund um die Uhr in Bereitschaft sind. Sie verfügen über einen Pager, ähnlich dem der Feuerwehr, und können so bei Bedarf gerufen werden. Zwar erreichen die Störungsexperten auch Eilmeldungen – im Unterschied zur Feuerwehr geht es jedoch in den seltensten Fällen um Leben und Tod. Dennoch haben die Experten die Auflage, ihren Wohnort maximal eine halbe Stunde Fahrtzeit von ihrem Einsatzort entfernt zu wählen. Bei Großbetrieben, erzählt Röhl, findet in Störfällen eine Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Abteilungen statt. In kleineren und städtischen Betrieben sind die Techniker dagegen häufig ‚Mädchen für Alles‘: Sie sind für technische Probleme wie defekte Türen ebenso verantwortlich, wie dafür, schlafende oder betrunkene Fahrgäste an die frische Luft zu begleiten. Auch „externe“ Probleme etwa durch freilaufende Hunde oder das Entfernen von Erbrochenem in Bus und Bahn gehören zu ihren Aufgaben.
Kommt es zu einem Störfall, ist die Dauer der dadurch verursachten Verspätung stets von zentraler Bedeutung. So wird auch die Leistung der Wartungstechniker bei den Betrieben nach Verspätungsminuten gemessen. Die ‚Schuld‘-Frage werde von Kunden und Betrieben unterschiedlich beantwortet, erklärt Röhl: „Für die Fahrgäste ist immer die Organisation als ganze Schuld, wenn es ein Problem gibt. Auf Seiten der Verkehrsbetriebe wird dagegen genau hingeschaut, welche Abteilung oder welcher Wartungstechniker zuständig ist.“ Auch die Geschäftsführungen der Betriebe suchen die Ursachen für Verspätungen in einzelnen Abteilungen oder bei bestimmten Personen. Die Gewerkschaften wehren sich hingegen häufig gegen diese Sicht: Sie argumentieren, dass nicht die Leistung Einzelner für die Dauer von Verspätungen entscheidend sei, sondern das Zusammenspiel der MitarbeiterInnen / Abteilungen.
Anforderungen und Erwartungen besser verstehen
Nach welchen Kriterien bewerten die beteiligten Akteure Störungen also jeweils? Das wollen die Wissenschaftler anhand konkreter Beispiele herausarbeiten. Die Wünsche der Fahrgäste und die Anforderungen der Verkehrsbetriebe sind in der Praxis nicht immer miteinander vereinbar: So kann der Ausfall eines Busses auf Kosten einzelner Fahrgäste den Betrieb des ganzen Netzes garantieren. Sicherheitsbedenken müssen mit dem Wunsch nach einer möglichst schnellen Störungsbehebung in Einklang gebracht werden. Ziel des Forschungsprojektes ist es, zu einem besseren Verständnis gesellschaftlicher Erwartungen an Verkehrsinfrastrukturen und damit verbundenen Konfliktlinien beizutragen. Die Wissenschaftler planen für 2018 außerdem eine Tagung zum Thema „On Time“, die sich mit der Zeitplanung im Verkehrswesen auseinandersetzen wird.
Das Projekt ist eines von insgesamt 16 Teilprojekten des Sonderforschungsbereichs (SFB) „Medien der Kooperation“ an der Uni Siegen. Der SFB wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert und ist Anfang 2016 gestartet. Mehr als 60 WissenschaftlerInnen erforschen dort interdisziplinär digitale Medien und die durch sie hervorgerufenen, gesellschaftlichen Veränderungen.
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