Wirtschaft als Pflichtfach in der Schule – sinnvoll oder mit fatalen Folgen? Auf einer Podiumsdiskussion an der Uni Siegen diskutierten Experten.
Sollte das Schulfach Wirtschaft eingeführt werden, so wie es die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen (NRW) vorhat? Ist es eine gesellschaftliche Notwendigkeit, dass Schüler eine ökonomische Bildung erhalten? Oder verfestigt sich damit eine kapitalistische Ideologie? Das diskutierten Experten an der Uni Siegen. Die „Pro-Seite“ wurde vertreten durch den Siegener Wirtschaftswissenschaftler Professor Dr. Jürgen Schlösser und den FDP-Landtagsabgeordneten Alexander Brockmeier. Auf der „Contra-Seite“ standen der Siegener Politikwissenschaftler Dr. Christian Zimmermann und Sozialwissenschaftler Professor Dr. Tim Engartner von der Goethe-Universität Frankfurt.
„Betriebswirtschaftslehre ist auf Gewinnmaximierung ausgelegt. Die Schule ist ein Schutzort und nicht dafür da, Schüler auf eine kapitalistische Konkurrenzgesellschaft vorzubereiten, ohne Solidarität und Blick auf das Gemeinwohl“, erklärte Zimmermann in seinem Anfangs-Plädoyer. Wirtschaft ohne politischen und historischen Kontext zu lehren, käme einer pädagogischen Kapitulation gleich. Engartner stimmte zu, dass es zur wirtschaftlichen Urteilsbildung Sachverstand brauche, es aber nicht Aufgabe der Schulbildung sei, dieses Verständnis zu schaffen.
„Natürlich wollen wir das Fach nicht entpolitisieren. In Zeiten von Trump und Brexit wäre das fatal. Aber wir erkennen die Realität an“, konterte der FDP-Abgeordnete Brockmeier. „Schüler müssen auch außerhalb des Schutzortes Schule klarkommen.“ Versicherungspolicen, Miet- oder Handyverträge – die Schule dürfe ruhig Lebenstüchtigkeit und Verbraucherwissen vermitteln. Schlösser ergänzte: „Informelles Lernen findet oft außerhalb der Schule statt.“ Das Problem sei: Einkommensschwache Familien sprechen selten oder gar nicht über Geld, Kinder von einkommensstarken Familien wiederum erhalten von ihren Eltern eine finanzielle Bildung. „Damit verfestigen sich die Schichteffekte“, sagte Schlösser. „Mit einem Schulfach Wirtschaft fordern wir gleichzeitig auch ökonomische Bildung für alle, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen.“
„Das Schulfach Wirtschaft hat nichts mit Lobbyismus zu tun“
Engartner und Zimmermann befürchten, dass externe Lehrkräfte aus Unternehmen und ohne pädagogische Fähigkeiten die Schüler unterrichten. „Wir sehen in anderen Bundesländern, wie das Fach unterwandert wird. Wirtschaft darf kein Schulfach der Wirtschaft sein. Die Schule muss ein neutraler Ort bleiben“, sagte Engartner. Die „Pro-Seite“ widersprach dem. „Das Schulfach Wirtschaft hat nichts mit Lobbyismus zu tun“, meinte Schlösser. „Wir möchten die Schüler nicht auf den kapitalistischen Marktdschungel vorbereiten, wie die Gegenseite es oft behauptet.“
Ganz im Gegenteil: Die „Pro-Seite“ möchte Schüler zu mündigen Bürgern ausbilden, die strukturelle Zusammenhänge verstehen, und dieses Verständnis für ihr Handeln und für Entscheidungen nutzen können. Dazu gehöre natürlich, die Themen Ökologie und Nachhaltigkeit zu thematisieren. Außerdem müssten auch alternative Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme neben der parlamentarischen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft besprochen werden. „Es ist ganz wichtig, Marktordnungen kritisch zu hinterfragen“, erklärte Schlösser. Dafür brauche es aber Grundlagenwissen.
„Wirtschaft verstärkt die Ego-Gesellschaft“
Um zu vermeiden, dass Lehrkräfte aus Unternehmen fürs Klassenzimmer rekrutiert würden, gäbe es eine entscheidende Voraussetzung: „Wir brauchen Lehrer mit einem Fachstudium in Wirtschaft“, forderte Schlösser. „Nur so können wir ein Pflichtfach Wirtschaft in der Schule etablieren. Wenn wir Ökonomie mal hier und dort in allen Fächern oberflächlich behandeln, dann erziehen wir nur eloquente Ignoranten.“
Die „Contra-Seite“ wollte das nicht stehenlassen. Ihre Befürchtung: Wirtschaft verstärke die heutige Ego-Gesellschaft. Das Individuum als Unternehmen und Selbstoptimierung als höchstes Gut – das sei völlig kontraproduktiv. „Warum versucht die Politik, dieses Schulfach durchzubringen?“, fragte Zimmermann. Sie sollte sich den realen Ängsten der Hauptschüler annehmen, die häufig erst ein Jahr nach ihrem Schulabschluss eine Ausbildung finden. Brockmeier berichtete aus seiner Erfahrung im Kontakt mit Arbeitgebern. „Die Ansprüche auf Auszubildende und Fachkräfte steigt. Viele Unternehmen wünschen sich Bewerber, die wirtschaftliche Grundkenntnisse besitzen. Mit einem verpflichtenden Schulfach könnte man diesen Störfaktor beheben.“
Welches Fach soll sterben, damit wir Wirtschaft einführen können?
Eine Frage blieb bis zum Schluss offen. „Es muss ein Fach sterben, wenn wir Wirtschaft einführen wollen. Welches soll das sein?“, fragte die „Contra-Seite“ wiederholt. „Die Fächer Politik und Geschichte dürfen nicht darunter leiden, wenn wir Wirtschaft einführen“, betonte Brockmeier. Eine klare Antwort auf die Frage blieb allerdings aus. „Im Zuge der G9-Einführung haben wir die große Chance, in NRW Wirtschaft einzuführen und idealerweise kein Fach zu verdrängen.“
Das Publikum durfte im Anschluss an die Diskussion abstimmen. Die deutliche Mehrheit sprach sich gegen das Fach Wirtschaft aus. Die Podiumsdiskussion wurde von der Schulleiterin des Evangelischen Gymnasiums Siegen-Weidenau, Beate Brinkmann, moderiert. Organisiert wurde sie vom Fachschaftsrat für Geistes- und Gesellschaftswissenschaftliche Lehramts-, Bachelor- und Masterstudiengänge in Kooperation mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
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