wS/rile – Siegen – Geschichten mit und über Menschen sind noch immer das Spannendste, was es gibt. Dieser Meinung sind wir, das Redaktionsteam von „wirSiegen“. Heute gibt es die erste Geschichte. Und mit Ihrer Hilfe könnte es eine Serie werden, denn wir sind überzeugt, dass es viele Geschichten gibt, die erzählt werden können und auch sollten. Ob lustige oder traurige Geschichten:Wenn Sie der Meinung sind, es wäre eine Geschichte für „wirSiegen“, schreiben Sie uns eine E-Mail oder rufen Sie uns an. Wie Petra und Sabine, die uns ihre folgende Geschichte erzählt haben:
20 Jahre durch eine Hölle gegangen
Ein Filmregisseur hätte diese Geschichte nicht besser inszenieren können. Die wahre Geschichte einer Frau, die rund 20 Jahre durch die Hölle ging. Aber beginnen wir am Anfang:
Nach einer gescheiterten Beziehung, aus der ein Sohn hervor ging, lernt die junge Mannheimerin Petra in ihrer Heimatstadt einen jungen US-Soldaten kennen und lieben. Doch sein Dienst in Deutschland ist zu Ende. Er muss zurück in die Staaten. Er verspricht Petra, sie in seinem Heimatland zu heiraten. Die junge Frau folgt ihm aus Liebe in die Staaten, lässt ihren kleinen Sohn zunächst bei den Eltern, um ihn später nach Amerika zu holen, wenn sie „festen Boden unter den Füßen“ hat. Aber auch diese Beziehung scheitert kurz vor der Hochzeit. Nach der Trennung bringt sie den kleinen Daniel, ihren zweiten Sohn zur Welt.
Nach zwei Jahren aus allen Träumen gerissen – Nirgendwo Hilfe
Mehr als zwei Jahre schlägt sie sich mit ihrem kleinen Kind durch. Dann trifft sie erneut einen Mann. Er ist, wie der Vater ihres Sohnes Daniel, bei der Army und in Boston stationiert. Sie verlieben sich, er verspricht ihr die Heirat. Petra glaubt, dass sie endlich das große Glück gefunden hat, denn die erste Zeit mit dem Mann erlebt sie wie einen schönen Traum. Auch aus dieser Beziehung entsteht ein Kind. Von Heirat ist allerdings nun keine Rede mehr. Der „Mann ihrer Träume“ hat sich verändert! Zu spät erkennt Petra, was mit dem Mann los ist: er ist Alkoholiker und neigt zur Gewalttätigkeit. Ihren kleinen Sohn Daniel schlägt er und auch sie selbst und der neu geborene Sohn Jorge werden nicht verschont. Petra flüchtet in ein Frauenhaus in Porto Rico. Dort kümmert man sich liebevoll um sie und den kleinen David. Ihren jüngsten Sohn hat sie nicht mitnehmen können. Den hat inzwischen der Vater versteckt. Zu der Zeit ist es Petra klar, sie will wieder zurück nach Deutschland. Allerdings nicht ohne ihren kleinen Sohn Jorge.
Hilfesuchend wendet sich die junge Deutsche an das Jugendamt in Boston. Doch davon kommt wenig Hilfe, ebenso wie von allen anderen Institutionen. Sie ist allein auf sich gestellt, die Behörden stellen sich stur. Nach dem inzwischen verschwundene Vater des kleinen Jorge wird behördlich gefahndet, es kommt zur Gerichtsverhandlung und der Vater des Jungen wird wegen Kindesmisshandlung angeklagt. Es wird ihm unter Androhung einer Gefängnisstrafe verboten, noch einmal nach Boston zurück zu kommen. Den kleinen, gemeinsamen Sohn hat der Vater unterdessen, wie sich später herausstellt, seiner eigenen Mutter in Obhut gegeben. Und diese hatte das Kind vor Petra verborgen.
Die junge Frau ist am Ende. Sie will mit ihrem Sohn David nach Deutschland. Doch dazu fehlt ihr das Geld. Und finanzielle Unterstützung gibt es in den Staaten nicht. Als sie sich an die Botschaft wendet, rät ihr ein hilfsbereiter Mensch, sich von den amerikanischen Behörden ausweisen zu lassen. 2003 werden die junge Mutter und ihr Sohn David ausgeflogen und nach Deutschland gebracht.
Zwangsausweisung die „letzte Rettung“ vor dem Untergang
Wieder sucht Petra Unterschlupf in einem Frauenhaus. Diesmal in Köln. Dort lernt sie Sabine kennen. Eine ebenfalls vom Schicksal schwer gebeutelten Frau, die zwei Kinder hat. Die beiden freunden sich an und beschließen, ihr Schicksal gemeinsam zu meistern. Von ihrem Sohn Jorge hat Petra noch immer kein Lebenszeichen. Inzwischen ist sie mit Freundin Sabine nach Siegen gezogen und wendet sich an das Jugendamt. Dort trifft sie auf eine hilfsbereite Mitarbeiterin, die sich sofort des Falles annimmt.
„Ich glaube, sie hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt“, erzählt Petra im Rückblick auf die schlimme Zeit. „Ohne sie wäre, glaube ich, alles nicht möglich gewesen. Ich kann dem Jugendamt Siegen, insbesondere dieser Mitarbeiterin nicht genug danken“, sagt sie und ihre Augen werden feucht. Aber weiter in der Geschichte:
Nach vielen Bemühungen, auch von Sabines Seite aus, erhält Petra eines Abends eine Mail von der deutschen Botschaft mit der Bitte, sich dort zu melden. Petra erfährt, dass Jorges Vater eine neue Lebensgefährtin hat, und dass die beiden das gemeinsame Sorgerecht für den inzwischen 10 Jahre alten Jorge beantragt haben. In Amerika ist es allerdings so üblich, so erzählt es Petra, dass die leibliche Mutter gesucht wird. Petra solle, so sagte man ihr, an eine fiktive Adresse in Massachusets kommen. Da sie jedoch mittlerweile schon 10 Jahre wieder in Deutschland wohnt und damals aus den Staaten ausgewiesen worden war, kann sie nicht wieder über den großen Teich. So erhält die neue Lebensgefährtin von Jorges Vater das Sorgerecht für den Jungen. Als Petra die Hoffnung schon fast aufgegeben hat, meldet sich eben jene Frau und erklärt ihr, sie könne den Jungen abholen.
Matratze an die Wand: Lieber arbeiten als schlafen !
Petras Freundin und Lebenspartnerin Sabine unterstützte sie in jeder Hinsicht. Über einen amerikanischen Anwalt mit dem Petra in Verbindung stand, erfahren sie, dass der Junge gefunden worden sei. Er wohne in einer vom Jugendamt bestimmten Pflegestelle bei einer allein stehende Frau, die sich wenig um den Jungen kümmere, ihm kaum etwas zu Essen gäbe und ihm sogar die Matratze an die Wand gestellt habe, weil er nicht schlafen sondern arbeiten solle.
Die Freude, den Jungen endlich gefunden zu haben ist groß. Zunächst heißt es, das Jugendamt in Amerika zahle den Flug. Doch das wurde schließlich widerrufen. Die beiden Frauen kratzen also mit Hilfe guter Freunde das Geld zusammen. 3 000 Euro kostet der Flug und es müssen einige Formulare herbeigeschafft werden, die ebenfalls viel Geld kosten. Als sie alles mühselig beisammen bekommen haben erklärt das amerikanische Konsulat, dass Petra nicht mehr in die Staaten einwandern darf, da sie damals ausgewiesen worden sei. Wieder fällt die junge Frau in ein tiefes Loch. Sie ist nicht nur am Ende ihrer Kräfte sondern beide Frauen sind auch finanziell am Ende.
„Dem Jugendamt Siegen sehr viel zu verdanken – Niemals aufgeben!“
Das Jugendamt in Siegen setzt sich schließlich mit dem Jugendamt in Boston in Verbindung. Dort findet sich inzwischen auch eine, wie Petra erklärt, „gute Seele“, die auch noch Deutsch spricht. Sie rät Petra, sie solle mit ihrem Sohn „skypen“, damit er sich an sie gewöhnt und ebenfalls Deutsch lernt. Jorge wohnt noch immer bei der „Pflegemutter“! Petra und Sabine kaufen ein Laptop und schicken es in die Staaten, an die Adresse von Jorges Pflegemutter. Doch die nimmt ihm den Computer ab mit der Begründung, er verschlinge zu viel Strom. Wieder kein Lebenszeichen von dem Jungen! Wieder bemüht sich das Siegener Jugendamt um das Sorgerecht für Jorge.
Inzwischen hat die neue Lebensgefährtin von Jorges Vater auf das Sorgerecht für den Jungen verzichtet. Eine Gerichtsverhandlung wird für den 18. Juli 2012 anberaumt. Hoffnung keimt bei Petra und Sabine auf! Endlich? Über den Anwalt in Amerika erfahren Petra und Sabine im letzten Augenblick, dass die Verhandlung verschoben wird, weil die Richterin an diesem Tag heiratet. Der Anwalt allerdings verspricht den beiden Frauen, dass der Junge, sobald er im Flugzeug sitzt, ihr Junge ist.
Und noch ein Jahr bangen und hoffen auf guten Ausgang
Die Geduld der beiden Frauen, die inzwischen doch die Möglichkeit haben, regelmäßig mit Jorge zu skypen, wird nochmals auf eine harte Probe gestellt. Ein ganzes Jahr sollte noch vergehen, bis Petra ihren Sohn Jorge am 27. Juli 2013 endlich auf deutschem Boden in die Arme schließen kann. Der bildhübsche Junge von mittlerweile 15 Jahren, hat in seinem jungen Leben viele Blessuren davongetragen. Er lispelt, hat schlechte Zähne, trägt in seinem Knie eine Metallplatte und braucht dringend eine Brille weil er fast blind ist. All das sind Spuren der Vergangenheit. Ganz zu schweigen von den psychischen Narben, die das Leben bisher bei ihm hinterlassen hat und die nur mit viel Liebe und Geduld langsam verblassen werden.
„Für mich ist „Holito“, so nennen wir ihn“, nicht nur mein Stiefsohn, sondern er ist wie mein eigener Sohn“, verrät Sabine, die mit ihrer Familie ebenfalls einen schweren Leidensweg gegangen ist. „Petra und ich sind seit einem Jahr verheiratet. Wir halten zusammen wie Pech und Schwefel. Sie und unsere Familien sind das Beste, was mir je passiert ist“, sagt sie und lächelt „ihre“ Frau liebevoll an. „Jetzt werden wir uns gemeinsam um Jorge kümmern, damit er ein gesunder und fröhlicher Junge wird. Zehn Jahre Kampf haben uns gelehrt: Man darf niemals aufgeben. Und dem Jugendamt Siegen sind wir unendlich dankbar für die Unterstützung!“