(wS/Si) Siegen 22.11.2021 | WissenschaftlerInnen der Universität Siegen haben neue Formen der digitalen Bürgerbeteiligung im Rahmen des Klimaschutzes erforscht. Sie haben dabei sowohl Potentiale als auch Grenzen identifiziert.
Windparks, Radwege, Ladesäulen – um die Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen zu erhöhen, werden häufig Bürgerinnen und Bürger beteiligt. Neue Formen der digitalen Bürgerbeteiligung hat das Siegener Forschungsprojekt „Creactive Citizen“ erforscht, das über drei Jahre bis 2021 mit Mitteln der Europäischen Union und des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert wurde. In dem Projekt arbeiteten Informatiker und PolitikwissenschaftlerInnen der Universität Siegen mit dem Dortmunder Softwareentwickler Geomobile GmbH zusammen. „Bei der Nutzung von Online-Beteiligung bestehen enorme Potentiale. Neue digitale Technologien können wirksam dabei helfen, Akzeptanz für Klimaschutzmaßnahmen zu erzeugen“, fasst Projektleiter Dr. Jörg Radtke aus der Siegener Politikwissenschaft die Ergebnisse zusammen. „Es können neue Räume für die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger erschlossen werden – aber es gibt dabei auch Grenzen, die man ernst nehmen sollte“.
Im Mittelpunkt des Projekts stand die Frage, wie man überzeugende digitale Angebote schaffen kann. Das Forschungsteam experimentierte hierbei mit den Technologien der Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) und bildete einen Windpark dreidimensional ab. Hierzu kooperierte das Team mit dem Windpark-Betreiber Rothaarwind GmbH, welcher derzeit in Südwestfalen einen Windpark plant. Eine weitere Kooperation mit der Stadt Olpe widmete sich der Neugestaltung von öffentlichen Flächen, die gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern gestaltet werden können. Durch Verwendung von Augmented Reality ist es möglich, dass beispielsweise eine Parkbank oder ein Baum an einem Seeufer platziert werden kann.
Dies geschieht vor Ort mithilfe des Smartphones. Im realen Bild der Handykamera wird das Objekt realitätsgetreu in die echte Umgebung hinein visualisiert. Dies habe zwei Vorteile: Personen erleben die realen Orte und Effekte können unmittelbar abgeschätzt werden. „Das stellt einen immensen Unterschied zur abstrakten Planung am Bildschirm dar und bietet einer aktiven Bürgermitsprache einen neuen Aspekt an“, erläutert Prof. Dr. Volkmar Pipek von der Universität Siegen, der das Informatik-Teilprojekt geleitet hat.
Die ForscherInnen fanden allerdings heraus, dass die Anbieter von Online-Bürgerbeteiligungen häufig vor zwei großen Hürden stehen: Oft stünden nur geringe finanzielle Mittel zur Verfügung und es fehle an öffentlichkeitwirksamer Werbung für die Beteiligungsformen. „Viele BürgerInnen wissen schlichtweg nichts von den Angeboten. Das Interesse muss aktiv hergestellt werden. Hierfür ist breite Öffentlichkeitsarbeit nötig“, sagt Radtke. Bei den entwickelten VR- und AR-Tools beobachteten die WissenschaftlerInnen, dass die Angebote am Anfang sehr gut angenommen wurden, das Interesse aber schnell nachließ, wenn die Anbieter nicht regelmäßig neue Inhalte produzierten und bereitstellten. „Professionalisierung spielt hier eine große Rolle“, schlussfolgert Lennart Borg von der im Projekt beteiligten Geomobile GmbH.
Häufig werde bei größeren Projekten ein Auftrag an Agenturen erteilt, die die Online-Bürgerbeteiligung intensiv betreuen. Klar wurde in den Auswertungen außerdem, dass sich die Akzeptanz für Online-Beteiligung dann erhöht, wenn die BürgerInnen merken, dass Klimaschutzmaßnahmen nicht „über ihren Kopf hinweg“ entschieden und umgesetzt werden, sondern sie alles erfahren, angehört werden und ihre Meinung sagen können. „Höhere Erwartungen können aber auch stärkere Enttäuschung erzeugen“, erläutert Jörg Radtke. „Die Zeit, die Bürger investieren, erhöht auch eine Anspruchshaltung, was die Resonanz angeht. Niemand gibt gerne einen Input, auf den nichts folgt. Feedback ist also sehr wichtig.“
Besonders aufschlussreich sind für die ForscherInnen die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage zur Windenergie-Nutzung, welche vor wenigen Wochen zusammen mit Praxispartnern durchgeführt wurde. Hierzu wurden 2.500 Personen in Nordrhein-Westfalen befragt. Eine große Mehrheit ist der Meinung, dass im eigenen Landkreis mehr für den Klimaschutz getan werden muss, etwa 60 Prozent unterstützen auch den Windkraft-Ausbau vor Ort, Bürgerbeteiligung wird dabei explizit gewünscht. „Es hat uns nicht überrascht, dass sich die Bevölkerung im Rahmen der Windkraft-Planung gute und vielfältige Informierung wünscht“, kommentiert Dr. Radtke die Ergebnisse, „aber einen Austausch mit anderen BürgerInnen wünscht sich die Mehrheit in Präsenz, nicht digital“. Wenn also über Klimaschutz-Maßnahmen wie Windparks, Ladesäulen oder Radwege diskutiert werden soll, führe an realen Gesprächen in der Stadthalle kein Weg vorbei. „Wir sprechen uns daher für Hybrid-Formate aus“, erklärt Radtke.
Das Projekt „Creactive Citizen“ wurde zwischen 2018 und 2021 mit einem Gesamtbudget von 970.000 Euro durchgeführt, darunter 485.000 Euro Förderung aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und 322.000 Euro Förderung des Landes Nordrhein-Westfalen. Beteiligt waren an der Uni Siegen das Seminar für Politikwissenschaft (Fakultät I) und die Wirtschaftsinformatik, Fachgebiet Computergestützte Gruppenarbeit und Soziale Medien (Fakultät III).