Fachtagung zu Kindern als Opfern und Zeugen häuslicher Gewalt

Dr. Petra Kriependorf: „Bis zu 70 Prozent der Kinder, die Gewalt in der Familie erleben, leiden unter Traumata“

(wS/red) Siegen 20.09.2016 | Ein Viertel aller Frauen in Deutschland erlebt Gewalt in der Beziehung – Frauen ohne Bildungsabschluss doppelt so häufig wie Frauen mit niedrigen oder mittleren Abschlüssen. Aber: Besonders häufig erleiden auch Frauen über 45 Jahren mit hoher Bildung schwere Gewalt. Diese Zahlen legte Dr. Petra Kriependorf jetzt im Rahmen der Veranstaltung „Kinder als Opfer und Zeugen häuslicher Gewalt“ im Kulturhaus Lÿz dar. Weitere Erkenntnis: 50 bis 70 Prozent der Kinder, die Gewalt in der Familie erleben, haben Traumafolgen. Sie werden zudem auch achtmal häufiger selbst misshandelt als Kinder aus Familien ohne Gewalt zwischen den Eltern.

„Opfer von häuslicher Gewalt nicht alleine lassen“ – Psychotherapeutin Dr. Petra Kriependorf (links) im Gespräch mit der Gleichstellungsbeauftragten des Kreises, Martina Böttcher. (Foto: Kreis)

„Opfer von häuslicher Gewalt nicht alleine lassen“ – Psychotherapeutin Dr. Petra Kriependorf (links) im Gespräch mit der Gleichstellungsbeauftragten des Kreises, Martina Böttcher. (Foto: Kreis)

Die Fachtagung war vom Runden Tisch gegen Gewalt in Siegen-Wittgenstein unter Leitung von Martina Böttcher, der Gleichstellungsbeauftragten des Kreises Siegen-Wittgenstein, organisiert worden. Das Interesse war riesig – 240 Fachkräfte aus Kitas, Schulen, der Jugendhilfe, aus Krankenhäusern, von Beratungseinrichtungen, von Vereinen, Verbänden und der Polizei waren ins Kulturhaus Lÿz gekommen. Über 100 weiteren Interessenten hatte Martina Böttcher wegen Platzmangel absagen müssen: „Offenbar gibt es ein großes Bedürfnis bei engagierten Fachkräften in der Region, sich Hintergrundwissen zu verschaffen, um auf Situationen vorbereitet zu sein, in denen Kinder Opfer und Zeugen von Gewalt in der eigenen Familie werden“, stellt sie fest.

Die Referentin Dr. Petra Kriependorf ist Psychologische Psychotherapeutin und leitet die Traumastation der Internistisch-Psychosomatischen Fachklinik Hochsauerland in Bad Fredeburg.

Mit Blick auf Kinder, die Zeugen häuslicher Gewalt werden, führte sie aus, dass diese auch ein höheres Risiko haben, später selbst Opfer oder Täter zu werden. Gewalterlebnisse ziehen zudem auch vielfach ernsthafte psychische Erkrankungen nach sich: in jedem zweiten Fall Depressionen, aber auch Borderlinepersönlichkeitsstörungen, Geh-, Seh- oder Hörstörungen. Oft könnten Betroffene auch keine normalen Bindungen eingehen: Sie klammern z.B. oder sind extrem abweisend. Bei traumatisierten Elternteilen bestehe außerdem die Gefahr, dass die Kinder vernachlässigt werden und diese Entwicklungsstörungen aufweisen.

Die Psychotherapeutin konnte den Anwesenden aber auch einige Hinweise geben, wie man Personen, die Opfer oder Zeugen häuslicher Gewalt geworden sind, unterstützen kann: Etwa indem die äußere Sicherheit erhöht werde. Das reiche vom Unterbinden von Kontakten zu den Tätern über die materielle Absicherung bis hin zu Beratungen oder Schutz im Frauenhaus. Wichtig sei auch, die innere und äußere Isolation zu durchbrechen. Ein weiterer Baustein könne sein, den Betroffenen zu ermöglichen, sichere Bindungen zu erfahren – etwa durch Frühe Hilfen für Risikofamilien, Erziehungsberatung, Jugendamt oder Familienhilfe. Wichtig sei zudem eine Sensibilisierung und bessere Ausbildung von Erziehern und Lehrern in diesen Bereichen.

In vielen Fällen empfinden Zeugen und Opfer von häuslicher Gewalt auch Scham und Schuldgefühle, mit dem Tenor „Ich habe es nicht anders verdient“. Zudem gebe es häufig auch eine falsch verstandene Loyalität zu den Tätern. Deshalb motivierte Dr. Kriependorf auch, Fälle häuslicher Gewalt anzuzeigen – dies geschehe viel zu selten. Den Opfern müsse immer wieder deutlich gemacht werden: „Du bist nicht schuld!“ Das könne auch mit Verweis auf die Rechtslage geschehen: „Sexueller Kontakt zwischen Eltern und Kindern ist verboten, Gewalt – auch sexuelle Gewalt – in der Ehe ist verboten, der Täter macht sich strafbar!“

„Alles was den Müttern und Vätern hilft, hilft auch den Kindern“, stellte Dr. Kriependorf fest. Das heiße umgekehrt aber auch: Hilfe für Kinder ohne Veränderung bei den Eltern ist schwierig bis unmöglich. Im Extremfall – bei schwerer Gewalt, Uneinsichtigkeit oder Therapieresistenz der Eltern – heiße das auch, dass ein Kind aus einer Familie herausgenommen werden müsse.

Zur Motivation gab die Psychotherapeutin den Anwesenden ein Zitat von Hilde Domin mit auf den Weg: „Nicht im Stich lassen, sich und andere nicht, das ist die Mindestutopie, ohne die es sich nicht lohnt, Mensch zu sein.“
Die Reaktionen der über 200 Anwesenden auf den Vortrag von Dr. Kriependorf waren äußerst positiv. Sie reichten von „tolle Veranstaltung mit einer hervorragenden Referentin, die aus der Fülle der eigenen Arbeit mit Sachverstand und Begeisterung eine schwierige Thematik darlegt“ über „erhellend und bereichernd, aufschlussreich und interessant, sehr informativ“ bis hin zu „die Ausführungen haben mich nachhaltig beeindruckt und ich würde mir wünschen, dass dieses Wissen von Lehrerinnen und Lehrern in den Schulalltag integriert werden kann“.

Aufgrund des großen Interesses soll die Veranstaltung im kommenden Jahr für diejenigen wiederholt werden, die diesmal nicht zum Zuge kommen konnten, kündigte Martina Böttcher an. Zugleich soll im Netzwerk des Runden Tisches gegen Gewalt gemeinsam ein Angebot entwickelt werden, um das Thema für die Akteure weiter zu vertiefen, die in Fällen häuslicher Gewalt in Familien beteiligt sind und unmittelbar zusammen arbeiten.

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