(wS/red) Siegen-Wittgenstein 16.04.2020 | „Schwedens Weg muss nicht falsch sein“
Prof. Dr. Claus Wendt hat an der Universität Siegen den Lehrstuhl für „Soziologie der Gesundheit und des Gesundheitssystems“ inne. Er analysiert die Hintergründe des schwedischen Sonderwegs in der Corona-Krise.
Schweden hat in der Corona-Krise einen anderen Weg eingeschlagen als andere Länder. Kindergärten, Schulen, Restaurants und Einzelhandel blieben geöffnet, während anderswo das öffentliche und wirtschaftliche Leben fast vollständig heruntergefahren wurde. Dafür wird Schweden heftig kritisiert. Von einem fahrlässigen Sonderweg ist die Rede. Die Kritik kann richtig sein – sie kann aber auch vollkommen falsch liegen, sagt Prof. Dr. Claus Wendt von der Uni Siegen: „Erst nach Ende der Krise, wenn wir einen Überblick darüber haben, in welchem Ausmaß die Sterblichkeit des Jahres 2020 von den Vorjahren abweicht, wissen wir, mit welcher Strategie die Menschen am besten geschützt werden konnten. Derzeit werden in allen Ländern Entscheidungen bei schlechter Sicht und unter Unsicherheit getroffen.“ Um die in Schweden getroffenen Entscheidungen zu verstehen, nicht um sie zu rechtfertigen oder als Vorbild zu nehmen, sind laut Wendt verschiedene Punkte zu berücksichtigen.
Zum einen gebe es kaum ein Land, das über so gute epidemiologische Daten verfüge, wie Schweden. Dort haben alle BürgerInnen eine Sozialversicherungsnummer, unter der demografische und Gesundheitsdaten gespeichert werden. Unter hohen Auflagen können WissenschaftlerInnen diese Daten verwenden. „Wenn man wissen will, wie sich bestimmte Krankheiten im Verlauf eines Lebens entwickeln und welche Einflussfaktoren hierfür von Bedeutung sind, ist man gut beraten, auf Schweden mit seinen Registerdaten zu blicken. Ein ähnliches Datenniveau, um die Entwicklung und Ausbreitung von Krankheiten im Zeitverlauf zu erfassen, ist für Deutschland nicht erhältlich“, erklärt Wendt. Ob die etwas bessere Sicht Schweden geholfen habe, auch die besseren Entscheidungen zu treffen, werde man erst später wissen. Für Deutschland gelte es, der Forschung besseren Zugang zu Gesundheitsdaten der Bevölkerung zu ermöglichen, damit diese für gesundheitspolitische Entscheidungen bei einer zukünftigen Epidemie berücksichtigt werden können, fordert Wendt.
Zum anderen seien in Schweden Prävention und Gesundheitsförderung in den letzten Jahren umfassend gestärkt worden. Die Gesundheitsziele der WHO, beispielsweise die Reduzierung von Übergewicht und Rauchen, seien für die schwedische Gesundheitspolitik von großer Wichtigkeit, betont der Experte. Inzwischen seien weniger als zehn Prozent der Schwedinnen und Schweden über fünfzehn Jahren tägliche Raucher. Ab 2025 soll Schweden vollständig rauchfrei sein. Durch weniger Raucher habe Schweden auch weniger Risikopersonen, für die Atemwegserkrankungen wie Covid 19 besonders gefährlich werden können, erklärt Wendt: „Man kann in einer gesundheitlichen Krisensituation anders agieren, wenn Gesundheit und Immunabwehr in der Bevölkerung schon im Vorfeld gestärkt wurden.“
Durch den universalistischen schwedischen Wohlfahrtsstaat seien Armut und soziale Ungleichheit darüber hinaus sehr viel erfolgreicher reduziert worden, als in anderen Ländern. Im Vergleich gebe es weniger gesellschaftliche Gruppen mit gesundheitlichen Problemen. „Wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen reduzieren Vorerkrankungen und schützen so während einer Epidemie“, sagt Wendt, der gleichzeitig aber auch Schwächen der schwedischen Sozial- und Gesundheitspolitik ausmacht: „Dem Gesundheitssystem könnte vorgeworfen werden, dass die Zahl der Krankenhausbetten und der Intensivbetten zu gering ist. Der weitere Verlauf der Corona-Krise wird zeigen, ob es dem für seine leistungsfähige Verwaltung bekannten schwedischen Gesundheitssystem gelingt, die Intensivbettenzahl und die medizinischen Geräte auf das erforderliche Niveau anzuheben.“
Ein Vorteil, den Schweden mit seinen nordischen Nachbarn teile, sei demgegenüber die effektive Koordination von Krankenhaus- und Pflegeleistungen auf kommunaler Ebene. Die Kommune ist für die Pflege älterer Menschen zuständig, ein Großteil davon erfolgt in Form von häuslicher Pflege. Zusammen mit der guten Datenlage über die Gesundheit der Bevölkerung bestehe so die Möglichkeit, die während der Corona-Epidemie besonders gefährdeten Risikogruppen zu identifizieren und erfolgreich zu schützen – und dabei gleichzeitig weiten Teilen der Bevölkerung Freiräume zu lassen.
Last but not least zeichne sich Schweden durch ein hohes gegenseitiges Vertrauen zwischen politischen Akteuren sowie Institutionen und der Bevölkerung aus, argumentiert Wendt: „Das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat wird durch positive Erfahrungen gestärkt. Gesundheit, soziale Sicherheit und geringe Ungleichheit prägen die Alltagserfahrungen. In einer solchen politischen Kultur führen Informationen über einen angemessenen Gesundheitsschutz zu Verhaltensänderungen, auch ohne dass Strafen drohen. Dann kann auf den Zeigefinger verzichtet werden, der nun in Ländern erhoben wird, die zunächst das öffentliche Leben heruntergefahren haben und jetzt nach einer passenden Exit-Strategie suchen.“
Das Fazit des Gesundheitsexperten:
„Alle Länder werden aus der Pandemie lernen müssen. Auch Schweden wird seine Strategien anpassen müssen, damit das positive Verhältnis von Staat und Gesellschaft nicht geschwächt wird. Bei der Suche nach Verbesserungen des Gesundheitsschutzes wird Schweden möglicherweise auf Deutschland und Österreich blicken. Und umgekehrt.“
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